Kognitive Dissonanz

(Bild: GoodIdeas – AdobeStock)

  • Der Chemieverband VCI rechnet mit einem schwierigen Jahr für die Branche.
  • Die Energiepreise bleiben hoch, die Probleme in den Lieferketten sind noch nicht ausgeräumt.
  • Die Herausforderungen für die chemisch-pharmazeutische Industrie waren damit selten so hoch wie zurzeit.

Psychologen nennen es „Kognitive Dissonanz“ – ein Unbehagen, das entsteht, wenn zwei an sich plausible Gedanken kollidieren. Eine kognitive Dissonanz stellt sich ein, wenn man den aktuellen Jahreswirtschaftsbericht der Bundesregierung nach der Jahresbilanz des Chemieverbands VCI liest. Auf der einen Seite eine im Jahr 2022 um 1,9 % gewachsene Wirtschaftsleistung, auf der anderen Seite eine um 10 % geschrumpfte Chemieproduktion. Aus Sicht der Bundesregierung ein verhalten optimistischer Blick auf 2023 (Prognose: BIP +0,2 %), aus Verbandssicht dagegen „Doom and Gloom“ oder, um die zusammenfassende Überschrift zur VCI-Jahresbilanz 2022 zu zitieren: „Dunkles Jahr mit trüben Aussichten“.

Die erste kognitive Dissonanz lässt sich relativ einfach abräumen: Die vom Bund konstatierte positive Wirtschaftsleistung klingt lediglich positiv – ist es aber keinesfalls. Denn das Bruttoinlandsprodukt als Maß für die Wirtschaftsleistung bezieht sich auf den Wert aller Güter und Dienstleistungen, die innerhalb eines Landes produziert werden – abzüglich der Importe und zuzüglich der Exporte. Die Inflation, vom Bund geschätzt auf 7,9 %, bläht das BIP auf. Ablesen lässt sich das an den Zahlen des VCI: Trotz kräftig gesunkener Produktíonszahlen stieg der Umsatz der Branche um 17,5 % auf rekordverdächtige 266,5 Mrd. Euro. Und das, obwohl die Chemieproduktion bereits im Oktober 2022 um 21 % unter dem Vorjahreswert lag. Ein weiteres Indiz steuert der europäische Chemieverband Cefic im Herbst bei: Die Organisation bilanzierte für das erste Halbjahr 2022 im Oktober zum ersten Mal in der Geschichte der EU mehr Chemieimporte nach Europa als Exporte. Das Handelsdefizit summierte sich auf satte 5,6 Mrd. Euro.

Dieser Zusammenhang relativiert auch die offiziellen Erwartungen für 2023: Aus Sicht der Bundesregierung sind die Wirtschaftsaussichten zum Jahresbeginn besser als gedacht. Die Regierung rechnet in ihrem Jahreswirtschaftsbericht für 2023 mit einem leichten Wirtschaftswachstum von 0,2 %. 2024 soll die Wirtschaft um 1,8 % wachsen. Konterkariert werden diese Zahlen wiederum von der mit 6,0 % zwar etwas niedriger erwarteten, aber immer noch hohen Inflationsrate für 2023.

Die Chemieproduktion ist 2022 stark eingebrochen und lag im Oktober 21 % unter Vorjahr.Bild: VCI
Die Chemieproduktion ist 2022 stark eingebrochen und lag im Oktober 21 % unter Vorjahr. (Bild: VCI)

Trügerische Sicherheit im Energiemarkt

Die Schockwellen, die der russische Angriff auf die Ukraine durch die globale und die deutsche Wirtschaft geschickt hat, bleiben weiter spürbar. Zu Lieferkettenproblemen infolge der Corona-Pandemie kam 2022 die Energiekrise. In einem bislang beispiellosen Kraftakt ist es Deutschland und der EU gelungen, die fehlenden Öl- und vor allem Gas-Lieferungen aus Russland zu kompensieren: Geholfen haben massive Einsparungen in der Industrie, verstärkte Gaslieferungen aus Norwegen und den Niederlanden, vor allem aber durch Glück: Bis Januar drückte das verhältnismäßig warme Winterwetter den Gasverbrauch.

Doch mit Blick auf 2023 scheint die Sicherheit trügerisch. Denn einerseits fehlt das russische Pipelinegas, das noch bis August 2022 nach Deutschland floss, und andererseits ist auch der LNG-Markt strukturell unterversorgt. Selbst wenn in diesem Jahr alle sechs schwimmenden LNG-Terminals in Deutschland in Betrieb gehen würden: Die Kapazität von 30 Mrd. m³ wird nicht ausreichen, es bleibt eine Lücke von 20 Mrd. m³. Dazu kommt, dass Deutschland bei der kurzfristigen Beschaffung des verflüssigten Erdgases bislang davon profitiert hatte, dass die Nachfrage in Indien und China – zwei Länder, die im Gegensatz zu Deutschland bereits über langfristige LNG-Lieferverträge verfügen – ungewöhnlich niedrig war. Zieht die Konjunktur in diesen Regionen wieder an, fehlen freie Kapazitäten auf den Spotmärkten.

Für Europa droht zudem weiteres Ungemach: Die Energieminister der EU hatten sich im Dezember auf einen Gaspreisdeckel bei 180 Euro geeinigt. Das Gesetz verbietet es Gashändlern und Versorgern, an EU-Börsen Verträge zu Preisen jenseits der beweglichen Obergrenze abzuschließen. In einem engen Markt kann das dazu führen, dass die Produzenten ihre Spotmarkt-Kapazitäten zum Beispiel nach Asien verkaufen. Es sei denn, europäische Kunden umgehen die europäischen Handelsplätze – ein Szenario, an dem der amerikanische Börsenbetreiber Intercontinental Exchange (ICE) offenbar arbeitet. Das Unternehmen will vom 20. Februar an Geschäfte mit Wertpapieren für künftige Gaslieferungen (TTF-Futures) auch in London anbieten und damit europäischen Kunden eine Kaufoption ohne EU-Preisdeckel bieten.

So reagieren die deutschen Chemieunternehmen auf die Energiekrise. Quelle: Mitgliederumfrage im Chemieverband VCI
So reagieren die deutschen Chemieunternehmen auf die Energiekrise. (Bild: Mitgliederumfrage im Chemieverband VCI)
Markus Steilemann ist Präsident des VCI.
„Weil die Chemie mit angezogener Handbremse produzieren muss, werden einzelne Grundstoffe bereits knapp.“ Markus Steilemann ist Präsident des VCI. (Bild: VCI)

Energie bleibt teuer, Wertschöpfungsketten sind gefährdet

Generell gibt es wenig Anlass zu glauben, dass Energie in Europa irgendwann wieder so günstig werden wird, wie vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Weil die Chemieindustrie zu den energieintensivsten Industrien in Europa gehört und auf dem Weltmarkt mit Akteuren aus Regionen mit günstigeren Energiepreisen konkurrieren muss, ist der Wettbewerb der europäischen Chemie grundlegend gefährdet.

„Wir nähern uns dem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt: Wenn für unseren Sektor keine Notlösung für die Energiepreise bereitgestellt wird, sind wir nicht mehr weit von der Bruchstelle entfernt. Hunderte von Unternehmen im Chemiesektor befinden sich bereits im Überlebensmodus, und wir haben bereits die ersten Schließungen zu verzeichnen“, mahnt Marco Mensink, Generaldirektor des Cefic. „Weil die Chemie mit angezogener Handbremse produzieren muss, werden einzelne Grundstoffe bereits knapp“, stellt auch VCI-Präsident Markus Steilemann fest. Rund 50 % der Mitgliedsunternehmen des VCI berichteten im November von Lieferschwierigkeiten und davon, dass erste Wertschöpfungsketten bereits reißen.

Entspannung ist derweil auf der Seite der globalen Lieferketten zu erwarten: Nach den schwierigen Jahren 2020 und 2021 hatte sich die Lage bereits zum Ende 2021 verbessert. Auch der russische Überfall auf die Ukraine hat diese Normalisierung nur kurze Zeit gestört. Die globale Wirtschaft kommt auf dem Weg hin zu einem störungsfreien Wirtschaftskreislauf voran. Doch die Probleme in der Lieferkette sind noch nicht gänzlich beseitigt. Für 2023 bestehen weiterhin große Unsicherheiten aufgrund des Kriegs in der Ukraine, der schwachen weltwirtschaftlichen Entwicklung und der hohen Energiepreise.

Sorgen bereitet zudem die Pandemie in China, wo sich das Virus nach der Abkehr von der rigiden Null-Covid-Politik rasant ausbreitet. Ein hoher Krankenstand könnte erneut zu Ausfällen entlang der Wertschöpfungskette und zu neuen Engpässen bei Lieferungen aus China führen.

Pharmabranche mit eigenen Herausforderungen

Gegenüber den Problemen der Chemie scheint die Situation in der Pharmaindustrie fast rosig: 2022 erreichte die Branche trotz aller Widrigkeiten ein Produktions­plus von 3 %. Während die Chemie in puncto Lieferketten relativ anfällig ist, waren die Lieferketten-Probleme in der Pharma-Branche erst spät zu spüren. Vor allem, als wichtige Vorprodukte nicht mehr zu rentablen Preisen verfügbar waren. Dies war insbesondere nach Ausbruch des Ukraine-Kriegs der Fall, als erste Lieferanten infolge gestiegener Gas- und Energiepreise ihre Produktion gedrosselt hatten. Auch die ebenfalls energieintensiv produzierende Glasindustrie hat 2022 ihre Produktion gedrosselt, und Verpackungsmaterialien wie Kartonagen und Kunststoffe wurden knapp.

Während die Produktion in der Chemie stark zurückgegangen ist, erzielten Pharmaunternehmen ein Wachstum von 3 %.Bild: VCI
Während die Produktion in der Chemie stark zurückgegangen ist, erzielten Pharmaunternehmen ein Wachstum von 3 %. (Bild: VCI)

Ein wichtiger Faktor für die Pharmabranche sind Vorlieferungen der chemischen Industrie. Hier drohen bei anhaltend hohen Energiepreisen Probleme, weil immer mehr Chemiebetriebe ihre Produktion drosseln. 2023 wird das Umfeld für die Pharmaindustrie nicht nur im Hinblick auf die Beschaffung von Vorprodukten schwieriger werden, sondern die Branche muss sich zudem auf eine Wachstumsdelle einstellen. Unternehmen die in den vergangenen Jahren von der Nachfrage nach Covidimpfstoffen und -medikamenten profitiert hatten, drohen Umsatzeinbußen in der Größenordnung von 50 %. Zudem werden 2023 Arzneimittel mit einem Jahresumsatz von insgesamt 57 Mrd. US-Dollar ihren Patentschutz verlieren. In der Folge wird erwartet, dass die Wachstumsdynamik von 3 % 2022 auf 1 % im Jahr 2023 sinkt, um sich dann in den Folgejahren auf 6 bis 8 % zu normalisieren. Bankanalysten erwarten 2023 für die führenden 20 Arzneimittelhersteller einen durchschnittlichen Umsatzrückgang von rund 4 %.

Fazit: Die Herausforderungen für die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland und der EU waren selten so hoch wie zurzeit. Angesichts der angespannten Energieversorgungslage und der Unwägbarkeiten in den Wertschöpfungsketten bleibt die Unsicherheit groß – bei dieser Einschätzung gibt es in der Branche keine kognitive Dissonanz.

Sie möchten gerne weiterlesen?