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Mit Remote-Lösungen und Augmented Reality lassen sich Kontaktsperren überwinden, die Vorteile gehen jedoch noch darüber hinaus. (Bild: Raumtänzer)

  • Die Corona-Krise hat Lösungen zur Fernwartung und virtueller Inbetriebnahme auf die Sprünge geholfen: Weniger durch neue Technologien, sondern durch eine aus Notwendigkeit gewachsene Akzeptanz der Betreiber.
  • Entfallende Reisekosten, verbesserte Arbeitssicherheit sowie Aufzeichnungen und Dokumentationen über Maschinenabnahme und Instandhaltung sind Vorteile, die der Industrie unabhängig von Reise- und Kontaktbeschränkungen erhalten bleiben.
  • Remote- und Online-Lösungen ermöglichen daher Serviceleistungen, die auch in Zukunft sicherlich an Bedeutung gewinnen werden.

Das zugrundeliegende Problem lässt sich einfach zusammenfassen: „Wir können den Kunden nicht vor Ort empfangen, der Kunde kann uns nicht empfangen – wir wollen aber natürlich trotzdem im Dialog bleiben“, bringt Axel Friese, Marketingleiter bei Glatt, die Anforderungen von Herstellern und Betreibern gleichermaßen auf den Punkt.

Notwendig und zum Glück vorhanden

Der Anlagenbauer steht vor der Herausforderung, einerseits Abnahmen fertiger Maschinen mit Kunden aus aller Welt durchzuführen, und andererseits Technikumsversuche für potenzielle Kunden anzubieten. Die Kommunikation an sich ist kein Problem: Gängige Plattformen für Videokonferenzen sind bereits in vielen Unternehmen aller Branchen etabliert, Namen wie
Skype, Teams oder Zoom sind mittlerweile Synonyme für die Verständigung mit Ton und Livebild. In vielen anderen Firmen haben sie in den letzten Monaten an Beliebtheit gewonnen. Dabei hat sich für viele Betreiber herausgestellt: Remote-Lösungen sind notwendig, aber glücklicherweise bereits vorhanden. Die Notwendigkeit hat viele Skeptiker überzeugt.

Bei der Abnahme einer verfahrenstechnischen Maschine, dem sogenannten Factory Acceptance Test (FAT), ist es jedoch mit einer einfachen Konferenzschaltung nicht getan. Für den FAT mit einem Kunden aus den USA setzte der Abfüllanlagen-Hersteller Optima insgesamt elf Kameras und umfangreiche Medientechnik ein. So ließen sich die produktions- und sicherheitsrelevanten Tests nicht nur nach Protokoll an der Hochleistungs-Abfüllmaschine durchführen, sondern auch gleichzeitig live zum Kunden streamen. Chatfunktionen und Audioübertragung ermöglichen dabei die Kommunikation mit dem Kunden.

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Remote-Lösungen wie Online-FATs erfordern die nötige Ausstattung, unter anderem umfangreiche Medientechnik. Bild: Optima

Das Verfahren hat Vorteile, die über bloße Kommunikation unter virusbedingten Sicherheitsvorkehrungen hinausgehen. Beispielsweise lässt sich der Kreis der Teilnehmer an der Abnahme unkompliziert erweitern: „So können bei bestimmten Themen weitere Experten des Kunden hinzugezogen werden, die nicht zum Abnahmeteam gehören“, berichtet Heiko Kühne, Vice President Cosmetics & Chemicals bei Optima Consumer. Bei bestimmten Fragen des Kunden lassen sich beispielsweise Kernlieferanten hinzuschalten. So entsteht auch für den Betreiber ein Mehrwert durch die Online-Abnahme, weshalb das Angebot beim Kunden auf Begeisterung stieß. „Das bestätigt uns darin, dass unsere Entscheidung richtig war, bereits vor einiger Zeit virtuelle FATs in das Portfolio unseres Life-Cycle-Management-Programms aufzunehmen“, betont Kühne.

Potenzial für die Zukunft

Weiteres Potenzial für die Zukunft, auch jenseits der pandemiebedingten Reisebeschränkungen, liegt in entfallenden Reisekosten, die sich bei internationalen Geschäftsbeziehungen schnell auf beachtliche Beträge summieren können. Das gilt besonders für Betreiber, die mit verschiedenen Lieferanten in Kontakt stehen oder unterschiedliche Systeme testen wollen, um nicht von einem einzelnen Anbieter abhängig zu sein. Hinzu kommt eine drastisch verbesserte CO2-Bilanz, wenn lange Anreisen per Flugzeug nicht mehr nötig sind. Auch dieses Thema gewinnt bei vielen Unternehmen an Beachtung und Bedeutung.

Die während der Abnahme entstandenen Inhalte müssen außerdem kein Einweg- oder Wegwerfprodukt darstellen. Entsprechend aufbereitete digitale Aufzeichnungen können einerseits natürlich zur richtlinienkonformen Dokumentation dienen, andererseits auch in der Schulung von Mitarbeitern zum Einsatz kommen. Gesenkte Reisekosten einerseits und zusätzliche digitale Inhalte andererseits eröffnen Leistungen, für die Betreiber auch zu zahlen bereit sind, meint Marketingleiter Friese: „Ich sehe darin eine Chance, eine neue Dienstleistungsform anbieten zu können: Der Kunde spart eine Menge.“

Von der Kommunikation auf Distanz profitieren Betreiber aber selbstverständlich nicht nur bei der Inbetriebnahme. Praktisch ebenso wichtig ist die Wartung und Instandhaltung von Maschinen, die bereits erfolgreich im Einsatz sind.

Brille statt Besuch

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Datenbrillen ermöglichen bequem zugängliche Zusatzinformationen auch von externen Experten und gleichzeitig freie Hände. Bild: Bilfinger

Allerdings sind Serviceeinsätze unter geltenden Kontaktsperren und Einschränkungen schwierig. Um den Besuch des Servicemitarbeiters vor Ort zu vermeiden, gehen einige bereits existierende Angebote noch einen Schritt über die Videokonferenz hinaus: Sie spielen dem Betreiber per Augmented Reality (AR) zusätzliche Informationen auf den Bildschirm eines Mobilgeräts oder ins Sichtfeld einer Datenbrille.

Neue Technologien dieser Art sind häufig die Domäne von Start-ups. Ein Beispiel ist das Unternehmen Raumtänzer mit seiner Servicesoftware Flux Remote: „Der Anwender lädt sich die Flux-Remote-App auf sein Smartphone herunter und scannt damit binnen Sekunden die reale Maschinenumgebung ab. Der Experte aus der Ferne kann nun mit Hilfe von Augmented Reality Schritt für Schritt den Anwender vor Ort unterstützen“, erläutert Geschäftsführer Christian Terhechte das Prinzip. Das Unternehmen, das seine Hauptkunden im Bereich Maschinen- und Anlagenbau hat, hat mit gutem Grund auch schon vor der Corona-Krise an derartigen Lösungen gearbeitet. Terhechte zufolge beträgt das Einsparpotenzial im Service damit bis zu 40 %.

Auch der Instandhalter Bilfinger Maintenance nutzt AR-Technologie im Rahmen seiner Angebote für „virtuellen Industrieservice“. So konnte das Unternehmen dem Mitarbeiter eines Kunden in Polen eine AR-Brille zur Verfügung stellen und virtuell Zugang zu einer Anlage erhalten, die die Wartungstechniker aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht tatsächlich besuchen konnten. Über die Datenbrille erhält der Mitarbeiter wichtige Informationen und behält gleichzeitig die Hände frei für nötige Wartungsschritte. „Mit AR-Brillen können wir Zeit sparen, Reisekosten senken und in der aktuellen Situation gesundheitliche Risiken mindern“, erklärt Jörg Stieglitz, Rollout Manager Digital Solutions bei Bilfinger Maintenance.

Ausgereifte Technologie

Stieglitz betont ebenfalls die Möglichkeiten für zukünftige Entwicklungen: „Die Technologien sind ausgereift, und erfolgreiche Projekte damit belegen bereits ihren Nutzen. Die deutliche Nachfragesteigerung aufgrund der aktuellen Situation kann so für unsere Kunden zum ersten Schritt für den Einstieg in die virtuelle Industrieanlage werden.“ Ein Blick über das Angebot ähnlicher Lösungen bestätigt diesen Eindruck: Beispiele für etablierte AR-Technik finden sich übergreifend in verschiedenen Industriezweigen. Dazu gehören unter anderem die Remote Eye Wear des Anlagenbauers GEA, das AR-Servicetool MI-Remote des Inspektionssystem-Anbieters Minebea Intec oder die Smart Remote des Tablettenpressen-Herstellers Fette.

Mehr Arbeitssicherheit, ganz unabhängig von Covid-19-Ansteckungsgefahr, ist das Ziel der AR-Lösung des Automatisierungsexperten ABB. Die „Augmented Field Procedures“ zielen darauf ab, die Arbeitsabläufe der Bediener im Feld zu digitalisieren und die Interaktion zwischen Feld- und Kontrollraumbetrieb zu verbessern. Mit Mobilgeräten oder Microsoft-Hololens-Brillen können Nutzer berührungslos und in Echtzeit auf Daten von Anlagen, Prozessen oder Abläufen zugreifen. Das verbessert die Zusammenarbeit in Echtzeit und ermöglicht die sofortige Dateneingabe über die Benutzeroberfläche vor Ort. „Unsere Lösung stellt sicher, dass diese Abläufe für die Bediener im Feld immer verfügbar sind, wann und wo immer sie sie benötigen“, beschreibt Chris Naunheimer, Digital Lead Energy Industries bei ABB. „Das erhöht die Sicherheit und betriebliche Effizienz.“

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