- Aktuelle Weiterentwicklungen bei Simulationssoftware ermöglichen es, dass heute nicht mehr nur Spezialisten Simulationswerkzeuge nutzen können, sondern auch Betriebsingenieure und Planer.
- Mit der jüngsten Entwicklung, dem Application Builder und -Server ist es möglich, eigene Simulations-Apps für das Lösen von Optimierungsaufgaben im Unternehmen zu erstellen.
- Die App dafür wird zuvor von einem oder wenigen Simulations-Spezialisten im Unternehmen entwickelt und basiert auf detaillierten multiphysikalischen Modellen.
Einzelne physikalische Phänomene zu simulieren, wie sie in Mischern, Reaktoren oder auch nur Rohrleitungen ablaufen, ist vergleichsweise einfach. Doch die reale Welt sieht in der Regel anders aus: Steigen beispielsweise Druck und Temperatur, dehnen sich nicht nur Flüssigkeiten und Gase aus, sondern auch Behälter und Rohrleitungen. Außerdem ändert sich die Festigkeit der eingesetzten Werkstoffe und auch Strömungen werden beeinflusst. Die dadurch entstehenden Rückwirkungen auf die Ausgangsgrößen können schnell sehr komplex werden. In der Vergangenheit war die Modellbildung und Simulation solcher Zusammenhänge deshalb ein Fall für Spezialisten.
Mit dem Ansatz der Multiphysik-Simulation hat sich der aus Schweden stammende Softwarehersteller Comsol bereits vor fast zwei Jahrzehnten dem Thema angenommen. Mit der jüngsten Entwicklung, dem Application Builder und -Server, schrumpft der Anbieter die Bedienung der Software quasi auf App-Format und ermöglicht es Anwendern, eigene Simulations-Apps für das Lösen von Optimierungsaufgaben im Unternehmen zu erstellen. „Bislang erforderte Multiphysik-Simulation eine Reihe von Spezialisten wie Mathematiker, Physiker, Anwendungs- und Softwareexperten. Davon gibt es nicht viele auf der Welt. Der Application Builder ermöglicht es nun, Multiphysik-Simulation in der täglichen Arbeit zu nutzen“, verdeutlichte Svante Littmarck, Präsident und CEO von Comsol, im Oktober vor rund 400 Anwendern auf einer Konferenz in München. So können Konstrukteure
und Techniker mit einer Simulations-App beispielsweise Spannungen in der Struktur von Anlagenkomponenten in Abhängigkeit von Geometrie, Material und Belastungszuständen selbst simulieren. Aber auch Vertriebsmitarbeiter oder Projektingenieure können spezifische Simulationsanwendungen dafür nutzen, um beispielsweise vor Ort die Auswirkungen von Design-Änderungen zu demonstrieren.
Die App dafür wird zuvor von einem oder wenigen Simulations-Spezialisten im Unternehmen entwickelt und basiert auf detaillierten Modellen. Die Anwendung greift dabei über die Client-Software des Herstellers oder einen gängigen Web-Browser auf eine lokale Installation des Comsol-Server-Softwarepakets zu. In dieser Softwareumgebung läuft die App, das Serverpaket enthält allerdings keine Werkzeuge zum Erstellen von Modellen, Applikationen und der Physik. Diese Funktionen sind der Simulationssoftware Comsol Multiphysics vorbehalten.
Deren aktuelle Version, die im Juni vorgestellt wurde (5.2a) ermöglicht das Erzeugen von Apps, deren Benutzerinterface sich während des Simulationsverlaufs verändern kann. Das Erscheinungsbild lässt sich an das Corporate Design des Unternehmens eines Anwenders anpassen. Zusätzlich zu drei neuen Lösungen, die schnellere und speichereffizientere Berechnungen ermöglichen, enthält das aktuelle Release der Software erweiterte Funktionen für die chemische Verfahrenstechnik sowie Mechanik und Strömungsmechanik. CFD- und Heat-Transfer-Module enthalten nun eine Funktion, die eine Gravitationskraft hinzufügt und gleichzeitig den hydrostatischen Druck an den Grenzflächen kompensiert. Darüber hinaus ist eine neue, linearisierte Dichte-Option in nicht isothermen Strömungen – eine laut Anbieter weit verbreitete Vereinfachung für natürliche Konvektionsströmungen – verfügbar. Akku-Hersteller und -Designer können nun mit dem Single-Battery-Physik-Interface im Battery & Fuel-Cells-Module komplexe 3D-Baugruppen in Akku-Packs modellieren. Darüber hinaus ist ein neues „Reacting Flow Multiphysics“- Physik-Interface verfügbar.
Im CT-Interview erläutern Svante Littmarck und Dr. Bernhard Fluche, Geschäftsführer von Comsol Deutschland, wie Simulations-Apps zur Optimierung von Anlagenkomponenten in der Chemie genutzt werden können.
Webinar: Optimierung von Rührkesselreaktoren
Gemeinsam mit der Redaktion der CHEMIE TECHNIK veranstaltet Comsol am 6. Dezember 2016 ein Webinar, indem anhand praktischer Beispiele gezeigt wird, wie Anwender aus der Chemie Rührkesselreaktoren einfach modellieren und optimieren können. Die Anmeldung zum Webinar ist unter
www.chemietechnik.de/optimierung-von-ruehrkesseln/ möglich, die Teilnahme ist kostenlos.
Interview mit Svante Littmarck und Dr. Bernhard Fluche, Comsol
„Bei Optimierungen kommt es auf Genauigkeit an“
CT: Prozesssimulation war früher sehr kompliziert – inzwischen hat sich in der Entwicklung von Simulationswerkzeugen einiges getan. Welche Möglichkeiten bietet das den Ingenieuren in der Chemie und im Anlagenbau?
Littmarck: Mit unserem Werkzeug können Anlagenkomponenten optimiert werden. Jüngst haben wir ein Flow-Modul und ein Mixer-Modul fertiggestellt, das von Chemieingenieuren genutzt werden kann, um Mischer und Rohrleitungssysteme zu optimieren. Weil Optimierung ein Dauerbrenner ist, ergänzen wir ständig neue Optimierungsalgorithmen, die an Universitäten entwickelt werden. Unsere Chemieingenieure in Stockholm haben sich in der jüngsten Vergangenheit vor allem auf elektrochemische Prozesse konzentriert, insbesondere Batterien und Brennstoffzellen – wie wichtig das ist, haben die jüngsten Vorfälle mit Batterien in Handys, Flugzeugen und Autos gezeigt. Dort haben wir in den vergangenen Jahre große Fortschritte erzielt.
CT: Application Builder erlaubt es Anwendern, eigene Applikationen für die Simulation individueller Problemstellungen zu erstellen. Welches sind die wichtigsten Anwendungsfelder für den Einsatz in der Chemie?
Littmarck: Auch hier ist das neue Mischer-Modul ein gutes Beispiel. Darin kann der Anwender beispielsweise die Anzahl der Rührflügel, die Geometrie des Behälters, den Abstand zwischen Rührflügeln und die Viskosität der Flüssigkeit eingeben. Der Anwender muss nicht die Hintergründe der Phasenströmungen oder gar die Gleichungen für Konvektionsströmungen verstehen. Er spezifiziert lediglich den Mischer und seinen Inhalt anhand der Engineering-Daten und erhält Ergebnisse wie zum Beispiel die erforderliche Mischzeit. Ein anderes Beispiel ist das Rohrströmungs-Modell – auch dort muss der Anwender die dafür notwendigen partiellen Differenzialgleichungen nicht selbst beherrschen. Seien wir ehrlich, die mathematischen Hintergründe schrecken Ingenieure doch eher davon ab, solche Modelle zu nutzen und diese analytisch zu lösen. Das muss für die Anwendung vereinfacht werden. Die wenigen, die das beherrschen, können ihr Know-how nutzen, um auch anderen Anwendern solche Problemlösungen zu ermöglichen – und das ist mit unserer Software möglich.
CT: Chemieingenieure sind skeptisch gegenüber Black-Box-Modellen. Was antworten Sie diesen?
Fluche: Wir verwenden keine Black-Box-Modelle, Comsol ist völlig transparent: Wir legen die verwendeten Gleichungen und Koeffizienten offen. Als Anwender braucht man diesen Einblick nicht zwingend, aber wer das möchte, kann die Grundlagen der Simulation und verwendeten Modelle einsehen. Und es bleibt dem Entwickler einer Applikation überlassen, welche Hintergründe er per Passwort schützen will und welche Informationen er zugänglich lässt. Dadurch ist es auch möglich, eigenes Know-how zu schützen.
CT: Der neue Application Builder erlaubt es Anwendern, eigene Simulationsanwendungen zu entwickeln und unter eigenem Namen im Unternehmen zu nutzen. Gibt es bereits Anwendungsbeispiele?
Littmarck: Durchaus. Auf der User-Konferenz in Boston wurde ein Beispiel vorgestellt, wie der Wasserversorger von Montreal Leckagen im Leitungsnetz aufspürt: Um den Leckageort zu ermitteln, werden die bei Leckagen entstehenden Geräusche genutzt. Diese werden von Akustik-Sensoren an den Hydranten gemessen. Die Zeitdifferenz zwischen der Ankunft von Geräuschen an den verschiedenen Sensoren erlaubt einen Rückschluss auf den Leckageort – abhängig von der Rohrleitungsgeometrie. Dazu wird eine speziell dafür erstellte Applikation unseres Multiphysik-Systems genutzt.
Fluche: … und das System kann von überall her genutzt werden, weil der Zugriff auf den Server über Standard-Webbrowser erfolgt.
Littmarck: Deshalb sind wir überzeugt: Dem Application Builder und Application Server gehört die Zukunft.
CT: Wie wichtig ist in solchen Anwendungen der Multiphysik-Ansatz?
Littmarck: Jedes wirklich technische Problem auf der Welt ist multiphysikalisch und unterliegt verschiedenen physikalischen Phänomenen die sich gegenseitig beeinflussen. Man hat nie eine klare eindimensionale Zuordnung einer physikalischen Größe.
CT: Die Lokalisierung eines Wasserrohrbruchs würde also ohne multiphysikalischen Ansatz nicht funktionieren?
Littmarck: Es kommt darauf an, welchen Anspruch der Anwender an die Genauigkeit hat. Akustikwellen setzen sich in unterschiedlichen Materialien und Strukturen unterschiedlich fort. Wenn die Genauigkeit egal ist, dann kann man auch einfache physikalische Zusammenhänge nutzen. Wenn man optimieren will, kommt es auf Genauigkeit an.