Wir könnten hier Weihnachten für Auditoren veranstalten – flaxt Dr. Simone Reinhard, Betriebsleiterin bei Evonik Technochemie in Dossenheim, mit Blick auf Schränke voller Dokumente, die im Rahmen der Qualifizierung der neuen Wirkstoffanlage entstanden sind. Einen zweistelligen Millionenbetrag hat der Spezialchemie-Auftragsproduzent 2008 und 2009 investiert, um das Wirkstoffgeschäft am Standort Dossenheim bei Heidelberg auszubauen. Eine Investition, die nicht nur ein klares Bekenntnis für den kleinen, aber feinen Evonik-Standort bedeutet, sondern Ausdruck der Strategie des Geschäftsbereichs Health & Nutrition ist, die Kapazität für Pharma-Auftragssynthesen weiter auszubauen.
1948 gegründet, blickt die „Technochemie“ auf diverse Eigentümerwechsel zurück: Das von zwei Chemikern gegründete Unternehmen gehörte unter anderem bereits zur Deutschen Shell, zu Laporte und, seit 2001, zur Degussa und wurde im Zuge der Neuaufstellung der Evonik dann 2007 in Evonik Technochemie umbenannt, als Teil der Business-Unit Health & Nutrition. Der Fokus des Dossenheimer Unternehmens mit derzeit rund 140 Mitarbeitern, liegt auf pharmazeutischen Zwischenprodukten und Wirkstoffen, sowie Spezialchemikalien für z.B. die Luftfahrt und die Elektronikindustrie.
Die gute Auslastung und der strategische Fokus auf das Pharmageschäft führten 2008 zur Entscheidung, in Dossenheim eine zweite Wirkstoffanlage zu bauen. Diese sollte einerseits den aktuellen Stand der Technik – unter anderem die Anforderungen des GAMP V – erfüllen, andererseits gegenüber der mit einer Schrittkettensteuerung automatisierten ersten Wirkstoffanlage mehr Flexibilität in der Produktion ermöglichen. Mit diesen Vorgaben trat der Betreiber schließlich an das in Hanau ansässige Engineering der Evonik Degussa heran. Die konzerneigene Engineeringabteilung hat es sich auf die Fahnen geschrieben, mit ihren Lösungen nicht nur Projekte zu realisieren, sondern gleichzeitig mit Blick auf die späteren Betriebskosten maßgeschneiderte Optimierung zu betreiben. „Wir konzentrieren uns auf Leistungen mit einem hohen Nutzenpotenzial“, umreißt Frank Weitzel den Anspruch der Ingenieure.
Realisiert werden sollte ein über vier Stockwerke verteilter API-Strang, ausgehend von der Befüllebene im 2. OG über die Reaktorebene (1. OG), die Fest-Flüssig-Trennebene (EG) und der Endprodukt-Abfüllung im Untergeschoss. Das Befüllen und die Endprodukt-Abfüllung geschieht unter Reinraum-Bedingungen. Die Technik dazu entspricht der Reinraumklasse D. Technik- und Produktionsteil sind in Weiß-, Grau- und Schwarzbereich getrennt.
Remote I/O am Profibus
Diese Trennung musste auch in der Automatisierungsstruktur abgebildet werden: „Das war der Grund dafür, dass wir sehr schnell entschieden haben, Remote-I/O-Technik einzusetzen und die Remote-I/Os mit Profibus DP anzubinden“, berichtet Frank Weitzel. Durch den Feldbuseinsatz konnten alle Durchbrüche zwischen Grau- und Weißbereich komplett verschlossen werden, ohne die Wartungs- und Erweiterungsfähigkeit zu beeinträchtigen. In der Nähe der Produktionsapparate wurden insgesamt 15 Remote I/O-Schaltkästen (Stahl IS1) installiert, von denen aus die Feldgeräte mit kurzen Stichwegen per 4…20-mA-Hart-Signalleitungen angebunden werden ohne die Wartungs- und Erweiterungsfähigkeit zu beeinträchtigen. „Das Konzept hat sich auch im Nachhinein als sehr sinnvoll erwiesen, der Verkabelungsaufwand ist vergleichsweise gering“, erklärt Weitzel. Das Remote-I/O-System von Stahl war im Werk bereits im Einsatz, deshalb wurde aus Gründen der Standardisierung entschieden, dieses auch in der neuen Anlage dafür einzusetzen.
Insgesamt besteht die technische Ausstattung der Anlage aus sechs emaillierten Reaktoren, zwei Hilfsreaktoren zum Lösen und Dosieren, einem Filtertrockner aus Hastelloy, zwei Eindampfanlagen sowie der Abfüllanlage für Endprodukte in Reinraumumgebung und dem ebenfalls in Reinraumumgebung untergebrachten Befüllbereich für Feststoffe.
Ursprünglich als Multi-Purpose-Anlage vorgesehen, wurde im Laufe des Engineerings aus Zeitgründen entschieden, zunächst eine Single-Purpose-Anlage mit der Platzoption für eine spätere Mehrzwecknutzung zu realisieren. „Die Auslegung als Mehrproduktanlage hätte im ersten Schritt einen sehr viel höheren Aufwand bei der Automatisierung bedeutet“, erklärt Weitzel. Der Wunsch nach mehr Flexibilität war beim Betreiber entstanden, weil in der ersten (Mehrprodukt)-Wirkstoffanlage das für neue Abläufe erforderliche Umprogrammieren der Schrittkettensteuerung (SPS mit überlagertem Scada-System) einen erheblichen Zeitaufwand bedeutet.
Leitsystem für GxP-Anforderungen
Die Auswahl für das Prozessleitsystem wurde im Zeitraum von Mai bis Juli 2008 unter vier verschiedenen Anbietern getroffen. Durch das Engineering wurde für alle vier Systeme eine Bewertung erstellt und zu zwei Systemen wurden Referenzanlagen besichtigt.
Besonderes Augenmerk lag bei der Entscheidung auf Erfahrungen der Anbieter im pharmazeutischen Bereich und der Projektabwicklung unter GxP-Anforderungen. In den Systemen mussten die Anforderungen an elektronische Aufzeichnungen und elektronische Unterschriften des EU-GMP-Leitfadens Annex 11 umgesetzt sein.
Nach der Letztpreis-Abgabe fiel die Entscheidung für das Centum VP-System von Yokogawa. „Die Systeme in der Endauswahl waren aus unserer Sicht technisch auf Augenhöhe, aber die Preispolitik über den Lebenszyklus spielte eine wichtige Rolle: Yokogawa konnte eine Life-Cycle-Betrachtung liefern und die Kosten für Updates und Releasewechsel transparent darstellen“, berichtet Weitzel. „Es fällt uns sehr einfach, eine solche Betrachtung über 15 Jahre anzustellen“, erklärt dazu Tim Henrichs, Produktmanager bei Yokogawa: „Das ist sowohl in unserer Hardware- als auch in der Softwarepolitik hinterlegt.“ Und Henrichs wundert sich: „Die Anforderung nach Darstellung der Lebenszykluskosten steht zwar in der Namur-Empfehlung NE 121, aber eine Life Cycle-Betrachtung wird gerade hier in Deutschland nur selten gemacht.“
Upgrades innerhalb eines Releases sind beim PLS-Lieferanten im Preis enthalten. Henrichs: „Einen Releasewechsel muss der Kunde nicht zwingend machen, wir unterstützen auch heute noch Systeme, die bereits 35 Jahre alt sind.“Da die Centum-Systemplattform weitestgehend unabhängig von Betriebssystemen entwickelt wird,folgte die Bedien u. Beobachtungsebene dieses Produktionsleitsystemes bisher immer als erstes der akuellen am Markt verfügbaren Windows Version. „Unser Leitsystem benötigt Windows nur für das Starten des Rechners“, verdeutlicht Henrichs: „Für einen Wechsel von Windows XP bzw. Vista auf Windows 7 würde man lediglich eine neue Revison des Releases 4 aufspielen – Revisionswechsel innerhalb einer Release sind für den Betreiber lizenzkostenfrei.“ „Die gut kalkulierbaren Folgekosten waren bei der Entscheidungsfindung ein hartes Argument“, pflichtet Simone Reinhard aus Betreibersicht bei.
Für die Automatisierung wurden schließlich zwei Controller und drei Bedienstationen eingesetzt, auf Redundanzen wurde – mit Ausnahme des sowieso redundanten 1GBIT/s Vnet-IP-Systembus und der Spannungsversorgung der Controller – verzichtet. Das MSR-Mengengerüst umfasst 148 lokale Messungen mit Vor-Ort-Anzeige, 409 Messstellen am Prozessleitsystem und 44 Regelungen. Fünf Package-Units für Filtertrockner, Vakuumpumpen, Absackung, Werkspumpen und Eindampfanlagen wurden via Profibus DP angekoppelt. Daneben wurde auch die Kommunikation mit den Begleitheizungen sowie festdrehzahl- und drehzahlgesteuerte Motorabgänge mit Profibus realisiert. „Bei der Erstinbetriebnahme der Bussysteme gab es zahlreiche Problemstellungen wie Verkabelungsfehler, Dateninkompatibilitäten (Byte/Bit-Reihenfolge), die wir bei der Inbetriebnahme beheben mussten“, berichtet Weitzel. Die Hart-Parametrierung der Feldgeräte geschieht mit dem Plant Ressource Manager (PRM) – dem leitsystemeigenen Plant Asset Management System (PAMS). Dieses wurde allerdings bisher vorwiegend zur Inbetriebnahme der Anlage genutzt.
Für alle Prozessfunktionen wurden Software-Typicals entwickelt und diese zur späteren Qualifizierung und Validierung anhand von vordefinierten Testprozeduren durch das Engineering und den Betreiber abgenommen. „Wir haben die Typicals sehr gründlich diskutiert, im Pflichtenheft sauber dokumentiert und dann gründlich getestet. Das hat sich bei der Inbetriebnahme ausgezahlt“, berichtet Weitzel. „Wir mussten später keine Änderungen mehr vornehmen“, bestätigt Reinhard. Die Grafik-Typicals, die auf dem Degussa Human Interface-Standard basieren, können in der Datenbank als Standards hinterlegt werden. Neue Elemente wie zum Beispiel ein Ventil können per Drag & Drop einkopiert werden, wobei die Eigenschaften automatisch vererbt werden.
Ablaufsteuerung versus Rezeptursteuerung
Um möglichst viel Flexibilität zu erreichen, wünschte sich der Betreiber eine klassische Rezeptursteuerung, für die modulare Grundfunktionen (Befüllen, Heizen, Kühlen etc.) genutzt werden sollten. Aufgrund des knappen Zeitrahmens wurde das Konzept hin zu einer parametrierbaren Ablaufsteuerung unter Nutzung des Yokogawa-Rezepturpakets geändert. Die Grundfunktionen der Anlage werden über Schrittketten mit veränderbaren Parametern aber fester Abfolge realisiert. Eine Ausnahme bildet dabei der Filtertrockner: Hier wurde eine vollständige Rezeptursteuerung mit modularen Grundfunktionen realisiert. Aktionen wie Füllen, Filtrieren, Trocknen etc. lassen sich dabei in einer variablen Reihenfolge aneinanderreihen. Eine in der Planung aufwendige Vorgehensweise, die sich im laufenden Betrieb bei Änderungen allerdings auszahlt. „Rezept-Grundfunktionen zu definieren erfordert intensive Gespräche“, erklärt Weitzel. Deshalb wurde dies nur für den Trocknungsschritt gemacht. Inzwischen ist der Betreiber allerdings auf den Geschmack gekommen, mit noch mehr Grundfunktionen arbeiten zu wollen. In dem validierten Prozess sind solche grundlegenden Änderungen allerdings zunächst nicht vorgesehen.
Für das Betriebspersonal bedeutete die gewonnene Flexibilität eine Umgewöhnung von der recht starren Schrittkettensteuerung auf das flexiblere System unter Einschlus des Treffens von definierten Entscheidungen. „Der Betreiber legte sehr viel Wert auf die Integration des Betriebspersonals in den Prozessablauf. Deshalb wurde die Interaktion zwischen Leitsystem und Bedienpersonal durch die Nutzung von Bedienerdialogen gefördert“, verdeutlicht Weitzel.
Insgesamt war das Projekt ein voller Erfolg: Nicht nur der Kostenrahmen wurde eingehalten, sondern auch der sehr enge Zeitplan wurde erfüllt. Mitentscheidend dafür war sicherlich, dass sich Planung und Ausführung wenig unterschieden. Dank der intensiven Mitarbeit der Betriebsmannschaft, die parallel zum Projekt auch noch den Produktionsplan zu erfüllen hatte, konnte bereits im Juli 2009 – 16 Monate nach dem Projekt-Kick off und 10 Monate nach Definition der verfahrenstechnischen Daten – mit der Regelproduktion begonnen werden. Betriebsleiterin Reinhard resümiert: „Wir haben trotz des für eine Pharma-Wirkstoffanlage sehr ehrgeizigen Zeitplans eine Punktlandung hingelegt und konnten unseren Kunden Ende 2009 termingerecht beliefern.“
Entscheider-Facts
Für Betreiber
In der GxP-konformen Wirkstoffanlage bei Evonik Dossenheim wurden zwei Controller und drei Bedienstationen eingesetzt.
Das Leitsystem ist das Centum VP von Yokogawa.
Auf Redundanzen wurde – mit Ausnahme des sowieso redundanten Vnet-IP-Systembus und der Spannungsversorgung der Controller – verzichtet.
Das MSR-Mengengerüst umfasst 148 lokale Messungen mit Vor-Ort-Anzeige, 409 Messstellen am Prozessleitsystem und 44 Regelungen.
Fünf Package-Units für Filtertrockner, Vakuumpumpen, Absackung, Werkspumpen und Eindampfanlagen wurden via Profibus DP angekoppelt.