Jorgo Chatzimarkakis, CEO von Hydrogen Europe

Jorgo Chatzimarkakis, CEO von Hydrogen Europe. (Bild: Hydrogen Europe)

CT: Derzeit ist viel von einem „Wasserstoff-Hype“ die Rede. Würden Sie dieser Formulierung zustimmen?

Chatzimarkakis: Wenn es ein Hype wäre, dann wären wir inzwischen in der vierten Phase des Hypes. Der klassische Hypezyklus hat ja fünf Phasen. Beim Wasserstoff haben wir nach der Einführung der Technologie in der Tat eine Phase der überzogenen Erwartungshaltung sehen können. Das war in den Jahren 2002/2003, als der Ökonom Jeremy Rifkin in der ganzen Welt die Hydrogen Economy vorgestellt hat. Damals wurden Erwartungen geweckt, die in der Folge nicht erfüllt werden konnten. Dies führte zu einer nachhaltigen Enttäuschung. Dieses „Tal der Enttäuschungen“ haben wir aber längst durchschritten. Jetzt kommt in Phase vier wieder die relativ steile Kurve des wiedererwachenden Interesses und der wachsenden wissenschaftlichen, aber auch industriellen Möglichkeiten. Die fünfte Phase, die hierauf folgt, trägt den Namen „Plateau der Produktivität“. Dorthin gelangen wir, was Wasserstoff anbetrifft, meiner Erwartung nach ab dem Jahr 2035. Hier dürfte eine Produktivität erreicht worden sein, die auch zu großen Gewinnen führt.

Allerdings haben wir es beim ganzen Thema Wasserstoff schon mit einem massiven Paradigmenwechsel zu tun. Wir haben das in der Menschheitsgeschichte schon ein paar Male erlebt: bei der Umstellung vom Pferd auf Lokomotiven als Antriebskraft, später dann nochmal bei der Umstellung auf Automobile. Diese Phasen sind immer mit massiven Investitionen verbunden, die meistens in die Infrastruktur, aber auch in die Technologieentwicklung fließen. Auch derzeit werden relativ intensiv und noch unstrukturiert Investitionen in den Volumenaufbau getätigt. Ab 2025 erwarten wir, dass dieser Prozess etwas strukturierter ablaufen wird, denn da werden auch die ersten massiven Staatsbeihilfen auslaufen. Bis 2035 werden dann die Infrastrukturen und Marktstrukturen in Form gebracht, die ab 2035 zu einer stärkeren Gewinn­orientierung führen werden. Im Ergebnis wird Wasserstoff auch vom Spezialrohstoff zur Commodity geworden sein. Bei einigen Derivaten wie Ammoniak vielleicht sogar schon etwas vorher.

Zur Person: Jorgo Chatzimarkakis

Jorgo Chatzimarkakis ist CEO von Hydrogen Europe, dem führenden Verband der europäischen Wasserstofftechnologie-Branche in Brüssel. Hydrogen Europe vernetzt die Branche (große Unternehmen oder KMUs, auch aus Deutschland) untereinander, die Technologien rund um Wasserstoff für die Industrie, den Mobilitäts- oder Energiesektor produzieren.

CT: In welchen Bereichen sehen Sie das größte Potenzial für Wasserstoff?

Chatzimarkakis: Es war relativ lange schwer, den Verantwortlichen im politischen Brüssel klar zu machen, dass Wasserstoff eine elementare Rolle auch in der Industrie spielen wird. Dann wurde die Dechema-Studie von 2019 zur treibhausgasneutralen Chemie veröffentlicht, die zeigte, dass es mit der chemischen Industrie einen Industrie- und Wirtschaftsbereich gibt, in dem man – im Gegensatz beispielsweise zur Stahlindustrie, in welche ungeheure Investitionen notwendig sind – quasi sofort grauen durch grünen Wasserstoff ersetzen kann. Damit wurde plötzlich deutlich, dass es einen großen potenziellen Abnehmer von Wasserstoff gibt, was das „Henne-und-Ei-Problem“ löste. Wenn beispielsweise in Südspanien Elektrolysekapazitäten aufgebaut werden sollen, ist es nicht mehr notwendig, allzu lange nach potenziellen Kunden zu suchen – denn diese sind mit der einheimischen chemischen Industrie bereits vorhanden, spätestens aber in Frankreich und ganz sicher in Deutschland.

Dies hat zusammen mit den Entwicklungen im Zusammenhang mit dem Green New Deal dazu geführt, dass in der Politik und in der Chemieindustrie nicht mehr länger gezögert wurde. Es geht jetzt eigentlich nur noch um die Frage wie wir diesen Prozess möglichst zielführend ausgestaltet bekommen. Um genau diese Frage zu beantworten, arbeiten wir bei Hydrogen Europe, aber auch in der Clean Hydrogen Alliance zusammen, in der unter anderem die BASF zusammen mit anderen Chemieunternehmen eine entscheidende Rolle spielt, und stimmen uns eng ab.

Der Chemiesektor ist sozusagen eine „low hanging fruit“, die sich schnell ernten lässt, auch wenn langfristig die größten CO2-Vermeidungspotenziale in der Stahlindustrie bestehen. Daher sieht unsere Strategie auch vor, zunächst in den industriellen Chemiezentren in Europa, Wasserstoff lokal zu produzieren, aber auch zu importieren. So lassen sich beispielsweise die Chemiezentren im Norden der Niederlande mit weiteren Hubs, etwa im Ruhrgebiet, verbinden. Leuna wiederum wird seinen Wasserstoff wiederum wahrscheinlich eher aus östlicheren Quellen bekommen. Und so wird sich bis 2035 langsam eine Infrastruktur aufbauen lassen. Ab 2035 werden wir dann ein flächendeckendes Wasserstoff-Netz in Europa sehen.

CT: Wie sehen Sie die Unterstützung aus der Politik? Sind die richtigen Prioritäten gesetzt?

Chatzimarkakis: Auf der EU-Ebene haben wir bis 2024 bereits das kurzfristige Ziel von 1 Mio. t erneuerbar produzierten Wasserstoff. Das entspricht 6 GW an Elektrolysekapazitäten. Das ist schon insofern bemerkenswert, weil sich EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und ihre EU-Kommissare damit noch für ihre eigene Amtszeit festgelegt haben. Das macht die Politik normalerweise ungern. Das zweite Ziel sind 40 GW innerhalb und nochmal 40 GW außerhalb von Europa bis 2030. Wir haben uns hier einmal die aktuellen Projektpläne im Detail angeschaut – unsere Erkenntnis: Wir werden das Ziel bis 2024 voraussichtlich nicht schaffen. Wir werden aber mehr als das Doppelte dessen erreichen, was bis 2030 vorgesehen ist.

Die EU-Kommission hat also die Möglichkeiten der Industrie überschätzt, kurzfristig handeln zu können, aber unterschätzt, dass wenn sie einmal eine Richtung eingeschlagen hat, hohe Skaleneffekte erreichen kann. Wenn man sich die Situation in Deutschland anschaut, stellt man fest, dass es hier eine gute Ausgangslage gibt. Dies liegt daran, dass frühzeitig eine Wasserstoff-Strategie verabschiedet wurde. Und das, als noch gar nicht klar war, wie viele EU-Mitgliedsstaaten überhaupt mitmachen. Mittlerweile hat sich das geändert: Länder wie Portugal und Griechenland haben sich mittlerweile so hohe Ziele gesetzt, dass eigentlich auch Deutschland seine Ziele noch einmal korrigieren müsste.

Ein weiteres Problem: Es gibt aktuell einen großen Konflikt zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium. Zu hoffen bleibt, dass sich dies mit einer neuen Regierung, die aktuell durch die Ampel-Koalitionäre verhandelt wird, ändern wird. Leider war es in der Vergangenheit so, dass das Bundesumweltministerium voll auf die „Karte“ Elektrizität aus dem Bereich der erneuerbaren Energien gesetzt hat. Das mag zwar für den Bereich Transport und vielleicht auch den Wärme- und Gebäudemarkt geeignet sein, doch um auch die Industrie zu dekarbonisieren, ist Wasserstoff wegen der benötigten Energievolumina unverzichtbar. Das wurde im Bundesumweltministerium zu lange unterschätzt und meines Erachtens auch politisch versucht zu verhindern. Die Gefahr droht, dass nun nach der Bundestagswahl je nach Ressortverteilung diese Auffassung sich auch in einem möglichen Bundesenergieministerium manifestiert. Notwendig ist deshalb ein Bekenntnis aller Parteien zum Wasserstoff – und auch eine Bereitschaft, diesen zu importierten. In der Ukraine oder Spanien wären sehr vielversprechende Kapazitäten aufbaubar.

Großes Schiff
Große Schiffe könnten in Zukunft Flüssigwasserstoff nach Europa bringen – hier ein Entwurf von Moss Maritime, Equinor, Wilhelmsen und DNV-GL. (Bild: Wilhelmsen)

CT: Und ein solcher Import wäre unbedingt notwendig?

Chatzimarkakis: Hierauf kann ich klar mit ja antworten und daher lautet meine Botschaft an Ihre Leserschaft auch: Die Chemieindustrie braucht eine Importstrategie. Heimisch produzierten Wasserstoff wird es geben, aber nur in kleinen Mengen. Das hängt mit den Stromkosten für die Elektrolyse zusammen. Die Chemiebranche wird ihre Dekarbonisierungsstrategie nur umsetzen können, wenn sie sich tatsächlich zum Import von Wasserstoff bekennt. Dazu gehört auch die Zusammenarbeit mit den Häfen von Hamburg und Rotterdam, aber beispielsweise auch mit dem von Porto. Die Häfen müssen umgerüstet werden und die Wasserstoff-Pipeline-Infrastruktur von dort zu den Industriezentren muss jetzt aufgebaut werden. Hier sollte sich die Chemieindustrie auch hörbarer einbringen, denn sie ist eine wichtige Schlüsselindustrie.

CT: Woher wird der Wasserstoff für die europäische Industrie kommen?

Chatzimarkakis: Wir werden natürlich auch in der EU Elektrolysekapazitäten haben – hier gehen wir von 40 GW aus. Eine weitere Region ist, wie bereits erwähnt, die Ukraine, da das Land sehr flächenreich, teilweise windreich und im Süden sogar sonnenreich ist. Außerdem großes Potenzial hat natürlich die sogenannte MENA-Region, also der Nahe Osten und Nordafrika, durch die hohe Sonneneinstrahlung und damit potenziell niedrige Kosten für grünen Strom zur Elektrolyse. Beispielhaft ist hier das Projekt Neom im Nordwesten von Saudi-Arabien, wo ein US-amerikanisches Unternehmen 5 Mrd. Euro in die Produktion Ammoniak aus Wasserstoff investiert. Für diese Unternehmen ist klar: Europa ist der Kunde. Das Ammoniak wird per Schiff in den Hafen von Rotterdam oder besser noch in das nähere Thessaloniki transportiert und wird dort wieder in Wasserstoff umgewandelt.

Der Vorteil der MENA-Region ist, dass wir hier schon bestehende Infrastrukturen haben. Also eben bestehende Schiffsverbindungen, aber auch schon existierende Pipeline-Verbindungen: Es gibt zwischen Marokko und Spanien, zwischen Tunesien und Italien bereits große Pipeline-Systeme. Und das sorgt für absolut günstige Transportkosten. Die Formel ist leicht zu merken: 1 kg Wasserstoff in der Pipeline 1.000 km zu transportieren, kostet nur 1 Cent. Da macht es dann auch keinen Sinn, den Wasserstoff teuer in Deutschland zu produzieren.

CT: Welche Signale erwarten Sie sich von der Chemieindustrie in Sachen Wasserstoff?

Chatzimarkakis: Die Chemieindustrie sollte der neuen Bundesregierung klarmachen, dass wir die Wasserstoff-Wirtschaft nur im europäischen Kanon entwickeln können. Beim Thema Transport ist das ja offensichtlich. Die BASF in Ludwigshafen lässt sich ohne europäische Pipelines nicht mit Wasserstoff versorgen. Daher muss die Frage sein, wie kommt der Wasserstoff aus Spanien oder Rotterdam dorthin? Da gibt es teilweise auch politische Widerstände, beispielsweise in Frankreich. An dieser Stelle muss sich die europäische Chemieindustrie noch stärker an der Hand fassen und sagen: Wir wollen das!

Zum Verband: Hydrogen Europe Mitglied im Verband Hydrogen

Europe sind über 260 Unternehmen der gesamten Wasserstoff-Wertschöpfungskette sowie 27 nationale Verbandsmitglieder. Das Ziel des europäischen Verbandes ist es, Wasserstoff als einen reichlich vorhandenen und zuverlässigen Energieträger zu etablieren, um Europas Gesellschaft emissionsfrei zu gestalten und gehört zu den wichtigsten Fürsprechern des Europäischen Klimagesetzes und des Green Deals der EU.

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