Schlüssel mit Nullen und Einsen

(Bild: rank peters – StockAdobe.com)

  • Der Weg zu einer nachhaltigeren Prozessindustrie ist eng verbunden mit dem Grad an Automatisierung und Digitalisierung in der Produktion.
  • Durch sogenannte Advanced Process Control etwa kann die Prozesssteuerung von Anlagen optimiert und gleichzeitig der Energieverbrauch reduziert werden.
  • Ein noch größerer Schub für eine nachhaltigere Produktion entsteht, wenn dies mit einem vollumfänglichen digitalen Zwilling kombiniert wird.

Als ein wesentlicher Pfeiler der globalen Wirtschaft steht die Prozessindustrie auch im Zentrum der Nachhaltigkeitsdiskussion: Ein hoher Energieverbrauch bei gleichzeitig hohem Einsatz fossiler Brennstoffe, steigende Energiekosten und strengere gesetzliche Vorschriften machen die Dekarbonisierung der Branche immer dringender. Unternehmen stehen also unter einem zunehmenden Druck, ihre CO2-Emissionen zu reduzieren und eine höhere Energieeffizienz im eigenen Betrieb zu erreichen.


Defossilisierung der Rohstoffe

Der erste Schritt in diese Richtung beginnt schon vor der eigentlichen Anlagenoptimierung – und zwar bei den verwendeten Produktionsressourcen wie Öl und Gas. Diese gilt es so weit wie möglich zu defossilisieren. Das ist möglich mithilfe recycelter Primärrohstoffe aus komplexen Abfällen wie Kunststoff, Reifen oder Batterien. Per chemischem Recycling können die Abfälle so wiederaufbereitet werden, dass sie sich wiederum in Öle und Gase umwandeln lassen. Das Verfahren ist besonders relevant für Kunststoffe, die eine kurze Lebensdauer haben und erheblich zur Umweltbelastung beitragen. In Europa arbeiten bereits mehrere innovative Firmen an solchen Verfahren, um die Prozessindustrie zu bedienen.

Anlagenbetreiber sollten sich dann mit den Antriebssystemen in ihrer Produktion auseinandersetzen. Elek­tromotoren machen fast 70 % des Strombedarfs der Produktion aus. Durch einen ganzheitlichen Systemansatz können Energieeinsparungen von bis zu 60 % für den gesamten Antriebsstrang erzielt werden. Dazu zählt etwa, dass der Wirkungsgrad des Motors gesteigert wird, neuste Frequenzumrichter für einen drehzahlvariablen Betrieb genutzt werden sowie integrierte digitale Lösungen. Das wiederum spart CO2-Emissionen. Weitere Anlagenkomponenten in Chemiefabriken mit hohem Energieverbrauch sind etwa die Reaktoren und Destillationskolonnen.

Smarte Sensoren und KI-basierte Wartung

Bestehende Anlagenkomponenten können darüber hinaus mit intelligenten Sensoren nachgerüstet werden, um ungeplante Ausfälle und den damit verbundenen unnötigen Energie- und Rohstoffverbrauch zu vermeiden. KI-basierte Asset-Management-Lösungen unterstützen die vorausschauende Wartung von Anlagenkomponenten wie Pumpen oder Ventilen. Sie erkennen abweichende Betriebsmuster und sorgen für maximale Zuverlässigkeit und Effizienz dieser Komponenten. Betreiber erhalten transparente Informationen darüber, wo sich eine Komponente in ihrem Lebenszyklus befindet und wann der optimale Zeitpunkt zur Wartung ist.

Mit moderner Software können intelligente Sensoren auch aus der Entfernung überwacht werden. Lange Fahrten zu entfernten Messpunkten lassen sich dadurch vermeiden. Nicht zu unterschätzen sind zudem intelligente Stellungsregler in der Ventilsteuerung. Sie sorgen dafür, dass die zur Steuerung genutzte Druckluft nur dann verwendet wird, wenn sie tatsächlich benötigt wird. Hier können Anlagenbetreiber bis zu 80 % der Energie einsparen, die mit konventionellen Stellungsreglern normalerweise verbraucht würde.

Zudem kann auch die Steuerungstechnik einer Anlage für mehr Nachhaltigkeit optimiert werden. Denn obwohl traditionelle Prozessleitsysteme sehr langlebig sind, müssen sie häufig vor Ort gewartet werden. Setzen Betreiber hingegen auf ein webbasiertes Leitsystem, kann dieses von überall aus gewartet werden. Entsprechende Reisen zur Wartung entfallen. Darüber hinaus können solche Systeme auch von mehreren Nutzern parallel und verteilt über das Web gesteuert werden. Das ist ein massiver Gewinn von Zeit und Kosten, der die Nachhaltigkeit von Betrieben fördert.

Advanced Process Control
Einen großen Schub für eine nachhaltigere Produktion verspricht die Kombination von Advanced Process Control mit einem digitalen Zwilling. (Bild: Siemens)

Digitalisierung im Brownfield

Als nächstes geht es daran, die Prozesse in den Produktionsstätten zu optimieren und damit energieeffizienter und nachhaltiger zu gestalten. In Deutschland und Europa liegt der Fokus dabei vor allem auf zum Teil jahrzehntealten Bestandsanlagen. Das Problem: Übersichten zum Anlagenbau liegen häufig nicht digitalisiert vor und zudem sind Veränderungen am Bestand teilweise schlecht oder gar nicht dokumentiert. Bevor Produktionsprozesse digital optimiert werden können, müssen unterschiedliche Datenquellen und -formate zunächst zusammengeführt oder die papierbasierte Dokumentation in digitale Informationen umgewandelt werden. Mit der passenden Software lassen sich all diese Daten und Informationen zusammenführen, in einen Kontext setzen, validieren und visualisieren.

Durch sogenannte Advanced Process Control kann die Prozesssteuerung dieser Anlagenbereiche optimiert und gleichzeitig der Energieverbrauch reduziert werden. Das bedeutet, dass Betreiber modellprädiktive Mehrgrößenregler bei der Steuerung einsetzen, wodurch sich Störungen schneller ausregeln lassen, der Rohstoffeinsatz und Energieverbrauch minimiert sowie Durchsatz und Produktqualität gesteigert werden.

Zwei Kollegen im Gespräch
Die Produktion kann im Vorfeld simuliert und optimiert werden, wodurch CO2 eingespart wird. (Bild: Siemens)

Das nächste Level: Digitaler Zwilling

Ein noch größerer Schub für eine nachhaltigere Produktion in Chemieanlagen entsteht, wenn die Advanced Process Control mit einem vollumfänglichen digitalen Zwilling kombiniert wird. Der digitale Zwilling für die Prozessindustrie ist ein virtuelles Abbild der derzeitigen und zukünftigen physischen Realität, zum Beispiel eines Produkts, eines Produktionsprozesses, einer Anlage oder auch nur eines kleinen Sensors oder einer Pumpe, einschließlich ihres Verhaltens und Gesundheitszustandes. Er wird stetig parallel zum laufenden Betrieb verändert und verbessert, so dass Produkt und Produktion in Echtzeit optimiert werden können. Betreiber können die Daten, die in der realen Welt gesammelt wurden, für Simulationsmodelle einsetzen, um kontinuierliche Optimierungskreisläufe zwischen der digitalen und der realen Welt zu erzeugen. Dies geschieht über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg und ermöglicht so fundierte Einsichten und sichere Entscheidungen im Sinne eines umfassenden Nachhaltigkeitsmanagements.

Mithilfe von spezieller Simulationssoftware wie Gproms von PSE lässt sich der digitale Zwilling des chemischen, biologischen oder pharmazeutischen Prozesses herstellen. Anwender können im Vorfeld der Produktion simulieren und optimieren, was dazu beiträgt, Ressourcen, Mittel und letztlich CO2 zu sparen.

Allein diese Beispiele zeigen, dass die digitale Transformation entscheidend ist, um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen. Der Weg zu einer nachhaltigeren Prozessindustrie ist eng verbunden mit dem Grad an Automatisierung und Digitalisierung in der Produktion. Jeder Schritt auf diesem Weg liefert Mehrwert – von der smarten Sensorik über künstliche Intelligenz in der Wartung bis zum umfassenden digitalen Zwilling der gesamten Produktion. Eine stets aktuelle und digitalisierte Datenbasis ist das Fundament für Digitalisierungsmaßnahmen, die für das Nachhaltigkeitsmanagement notwendig sind.

Axel Lorenz, CEO Process Automation bei Siemens
(Bild: Siemens)

Interview mit Axel Lorenz, CEO Process Automation bei Siemens

Die Chemieindustrie steht bei der Digitalisierung im Branchenvergleich nur im Mittelfeld. Was sind aus Ihrer Sicht hier die größten Hindernisse?
Die meisten Chemieunternehmen haben Industrie 4.0 im Visier oder nutzen bereits digitale Anwendungen und Lösungen für die Produktion. Die größten Hindernisse sind, dass sie die technische Infrastruktur ihrer Bestandsanlagen als unzureichend für Digitalisierungsmaßnahmen ansehen, sie vor vermeintlich zu hohen Investitionskosten zurückschrecken oder Digitalisierung nur als Sicherheitsrisiko sehen. Dazu kommt der branchenübergreifende Fachkräftemangel. Fakt ist aber, wer seinen Betrieb nicht zu einem Digital Enterprise transformiert, wird künftig nicht mehr wettbewerbsfähig sein.

Welchen Stellenwert nehmen Nachhaltigkeitsziele bereits heute in der Digitalisierung von Chemie- und Pharmaunternehmen ein?
Nachhaltigkeitsziele sind in der Chemie- und Pharmaindustrie schon länger ein Thema. Die Dynamik hat aber deutlich zugenommen, was Nachhaltigkeitslösungen angeht und wie die Digitalisierung dabei helfen kann. Unternehmen sind sich zunehmend bewusst, dass sie einen Beitrag zur Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsziele leisten müssen und dass digitale Lösungen dafür unverzichtbar sind. Erst kürzlich hat sich die Initiative Together for Sustainability entschieden, für ihr Management und Tracking des CO2-Fußabdrucks eines Produkts auf das Siemens-Tool Sigreen zu setzen.

Sehen Sie in der notwendigen nachhaltigen und digitalen Transformation der Branche in den nächsten Jahren eher einen „disruptiven“ oder einen „evolutionären“ Prozess? Und wie unterstützen Sie bei Siemens Ihre Kunden hierbei?
Dieser Prozess wird eher evolutionär verlaufen, da abrupte Veränderungen in dieser stark regulierten Branche oft schwierig sind. Wir unterstützen unsere Kunden dabei, digitale Technologien schrittweise einzuführen und ihre Prozesse zu optimieren, die Effizienz zu steigern und dadurch Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Einerseits bieten wir dafür eine breite Palette an Digitalisierungs- und Automatisierungslösungen an. Andererseits helfen wir unseren Kunden mit Beratung und Finanzierungslösungen.

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