Dr. Felix Hanisch, Bayer, bei der virtuellen Namur-Hauptsitzung 2021.

Dr. Felix Hanisch, Bayer, bei der virtuellen Namur-Hauptsitzung 2021. (Bild: Namur)

Für die Automatisierer in der Prozessindustrie läuft es derzeit gut. Nicht nur, dass die Unternehmen, in denen die Experten beschäftigt sind, die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie schnell hinter sich lassen konnten, auch die immer noch geltenden Reisebeschränkungen hindern die Anwender offenbar nicht daran, ihre Projekte weiter voranzubringen. Und so ist es aus Sicht von Namur-Vorstandschef Dr. Felix Hanisch richtig und konsequent, auch das diesjährige Anwendertreffen in den virtuellen Raum zu verlegen.

Dass dem Haupt-Treffen, bei dem am 4. November rund 300 Experten virtuell zugeschaltet waren, viele Arbeitskreis-Termine vorausgegangen waren, zeigte sich nicht nur im vielfältigen Programm, sondern vor allem auch in den Fortschritten, die Hanisch gleich zu Beginn am Donnerstag Nachmittag präsentierte: Ob Öffentlichkeitsarbeit oder Weiterentwicklung der aktuellen Technologiestrategien – in beinahe allen gesetzten Zielen für 2021 konnte der Namur-Vorstand deutliche Fortschritte vermelden. So treibt die Anwendervereinigung ihre Automatisierungsstruktur Namur Open Architecture, NOA, weiter voran und will damit die Automatisierungspyramide für IT-Technologien und Mehrwertdienste öffnen. Hier finden Sie einen Grundlagenbeitrag zur Namur Open Architecture.

Aktuell geht es darum, das Datenmodell, das die Grundlage für die Schaffung und Nutzung solcher Mehrwertdienste bildet, zu definieren und in die Breite zu bringen. Die „PA-DIM“ genannte Systematik soll von möglichst vielen Organisationen und Unternehmen unterstützt werden.

Modulautomation MTP hat einen neuen Host

Auch bei der Modulautomation MTP vermeldet die Namur Fortschritte: Mit dem 2014 auf dem Anwendertreffen erstmals vorgestellten Module Type Package-Ansatz sollen künftig Automatisierungssysteme in der Prozessindustrie modularisiert werden, um die Flexibilität der Produktionsanlagen zu steigern und gleichzeitig den Engineeringaufwand drastisch zu reduzieren. Im Kern geht es darum, die Eigenschaften des automatisierten Moduls in einem MTP genannten Module Type Package in einem definierten und offenen Format zu beschrieben. Hier erfahren Sie mehr zu MTP.

Die Entwicklungsarbeit für MTP ist getan, die Systematik kann inzwischen in der Praxis angewendet werden, verdeutlichten Ulrich Christmann, Lanxess, und Axel Haller, ABB, in ihrem Statusbericht. Allerdings bemängelt Haller, dass MTP bislang kaum in den Projektausschreibungen der Unternehmen in der Prozessindustrie spezifiziert wird. „Wir können mit dem aktuellen Stand bei MTP bereits reale Projekte in Produktionsanlagen umsetzen, aber wir stehen hier auch vor dem klassischen Henne-Ei-Problem“, so Haller: „Als Hersteller müssen wir den Bedarf sehen, um unsere Investitionen in die Technologie rechtfertigen zu können.“

Ulrich Christmann, Lanxess, und Axel Haller, ABB, informierten über den Status bei der Modulautomation MTP
Ulrich Christmann, Lanxess, und Axel Haller, ABB, informierten über den Status bei der Modulautomation MTP. (Bild: Namur)

Weil die Anwender mit der Vermarktung von MTP überfordert sind und für einen wirklichen Durchbruch der Modulautomation ein internationaler Ansatz gefordert ist, hat die Namur das Projekt in die Hände der Profibus-Nutzerorganisation Profibus International (PI) gelegt. Der neue „MTP Host“ soll sich künftig um die Internationalisierung, Standardisierung und das Marketing für MTP kümmern. Gleichzeitig fällt PI künftig die Aufgabe zu, die Rechte an MTP zu managen sowie MTP-Produkte zu zertifizieren.

Ethernet-APL kratzt an der Marktreife - braucht aber Geräteintegration

Auch beim virtuellen Namur-Treffen im November spielte die im Juni gestartete Ethernet-APL-Technologie eine wichtige Rolle und als ein Eckpfeiler der künftigen Prozessautomatisierung genannt. Der neue Kommunikationsstandard soll nicht nur das Ende der 4 bis 20 mA-Technik einläuten, sondern der Digitalisierung in der Prozessindustrie zum Durchbruch verhelfen. Im Vergleich zur analogen Kommunikation erlaubt Ethernet-APL den Zugriff auf Geräteinformationen zur Diagnose und Zustandsüberwachung. Gegenüber Feldbussystemen wie Foundation Fieldbus oder Profibus PA ermöglicht die deutlich höhere Bandbreite eine hohe Übertragungsgeschwindigkeit. Dass dies auch in Multivendor-Anlagen funktioniert, wurde bereits in Pilotinstallationen – unter anderem bei Bilfinger im Industriepark Höchst und bei der BASF in Ludwigshafen nachgewiesen. Hier finden Sie unseren Beitrag zum Marktstart von Ethernet-APL.

„Ethernet APL kratzt an der Marktreife“, sagte Felix Hanisch und zeigte sich begeistert von den positiven Erfahrungen, die beim Prototypen-Test in der BASF bereits gemacht wurden. „APL ist erst einmal nur ein Kabel – aber aus meiner Sicht die vielleicht größte und letzte Chance, mit der Digitalisierung im Feld anzukommen“, so Hanisch. Denn die Anwender – wie auch die Hersteller – haben in Sachen Feldbuskommunikation einen inzwischen fast drei Jahrzehnte währenden Leidensweg hinter sich: Profibus PA und Foundation Fieldbus konnten sich aufgrund von Anfangsschwierigkeiten und der Komplexität im praktischen Einsatz nicht durchsetzen. „Wir haben noch etwas verbrannte Finger durch den Feldbus“, bringt Hanisch das Akzeptanzproblem auf den Punkt.

Anwender-Akzeptanz bei APL nicht unterschätzen

Um der Technologie zum Durchbruch zu verhelfen, pochen die Anwender darauf, die bei der mißglückten Einführung der Feldbussysteme gemachten Fehler nicht zu wiederholen. Es geht um mehr, als ein neues Kabel: Die Prozessautomatisierer erhoffen sich eine einfachere Inbetriebnahme, beispielsweise dadurch, dass Geräte automatisch identifiziert werden, die richtigen Gerätetreiber zugeordnet werden und ganze Segmente gestartet werden. Zudem soll der Gerätetausch vereinfacht werden, indem neue Geräte automatisch adressiert und deren Parameter automatisch geladen werden. Auch bei Änderungen sollen Parameter automatisch synchronisiert werden. Und auch die Statusinformationen nach NE107 (Namur-Ampel) sollen sofort zur Verfügung stehen. Hier geht es zu unserer Artikelsammlung zu Ethernet-APL.

Diese Anforderungen lassen sich, so Sven Seintsch, der die neue Technik im Testlabor bei Bilfinger in Frankfurt Höchst unter die Lupe nimmt, von APL alleine nicht erfüllen: „Wir brauchen die Kombination aus APL, der Geräteintegration FDI sowie dem Profinet Profil 4.0“, so Seintsch.

Und auch hier lauert das Henne-Ei-Problem: Denn nach wie vor ist die Geräteintegration in der Prozessindustrie ein Flickenteppich aus den historisch gewachsenen Beschreibungsansätzen EDDL, FDT und jüngst FDI. Handlungsbedarf gibt es vor allem auf Seiten der Gerätehersteller und der Anbieter von Engineering-Tools und Host-Systemen, die in ihren Produkten FDI implementieren müssen.

Das virtuelle Anwendertreffen läuft noch bis am Freitag, 4.11., 13:00 Uhr und adressiert in 16 Workshops weitere aktuelle Themen wie die neue Technologie Roadmap Prozess-Sensoren 2027, Funktionale Sicherheit, Integrationsmodelle und Condition Monitoring.

Sven Seintsch verdeutlichte, dass es die Kombination aus APL, FDI und Profinet Profil 4.0 braucht, um Nutzen für die Anwender zu schaffen
Sven Seintsch verdeutlichte, dass es die Kombination aus APL, FDI und Profinet Profil 4.0 braucht, um Nutzen für die Anwender zu schaffen. (Bild: Namur)

Änderungen im Namur-Vorstand / neues Logo

neues Logo und neuer Claim der Namur
Neues Logo und neuer Claim der Namur. (Bild: Namur)

Im Namur-Vorstand gab es personelle Veränderungen: Dr. Bernd Beßling, BASF, geht in den Ruhestand, sein Nachfolger wird Tobias Schlichtmann, der ebenfalls von der BASF kommt. Igor Stolz, Evonik, folgte auf Dr. Wilhelm Otten, der ebenfalls altershalber bei Evonik ausgeschieden ist. Neben Stolz und Schlichtmann besteht der Namur-Vorstand zusätzlich aus Dr. Thomas Dreier, Covestro, Michael Pelz, Clariant, und Dr. Felix Hanisch, Bayer. Mit „Turn Expertise Into Excellence“ hat sich die Anwender-Vereinigung einen Claim zum neu gestalteten Logo gegeben.

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