Die Wettbewerbsfähigkeit, eine der "Säulen des Wohlstands" in der EU, benötigt teure Sanierungsmaßnahmen.

Die Wettbewerbsfähigkeit, eine der "Säulen des Wohlstands" in der EU, benötigt teure Sanierungsmaßnahmen. (Bild: Dall-E3 / OpenAI)

Die EU-Kommission nennt in ihrer Mitteilung zum Draghi-Report vier „Säulen des Wohlstands“, auf denen das europäische Wirtschaftswachstum basiert: nachhaltige Wettbewerbsfähigkeit, wirtschaftliche Sicherheit, offene strategische Autonomie sowie fairer Wettbewerb. „Die Vision, die Europa vorantreibt, besteht darin, Bedingungen zu schaffen, in denen Unternehmen florieren, die Umwelt geschützt wird und jeder die gleichen Chancen auf Erfolg hat“, heißt es in der Mitteilung. Um diese Vision auch in der heutigen Welt mit neuen Herausforderungen aufrecht zu erhalten, müsse Europa „vorausschauend handeln und festlegen, wie es wettbewerbsfähig bleiben kann“.

Vor diesen Hintergrund hat die EU-Kommission vor rund einem Jahr Prof. Mario Draghi beauftragt, einen Bericht zu seiner persönlichen Vision für die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit zu erstellen. Der Bericht befasst sich mit den Herausforderungen, denen sich die Industrie und Unternehmen im Binnenmarkt gegenübersehen. Die nun vorgestellten Ergebnisse des insgesamt fast 400 Seiten starken Berichts sollen die Kommission bei einem neuen Plan für nachhaltigen Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit in Europa unterstützen. Dabei soll insbesondere ein neuer „Clean Industrial Deal“ für wettbewerbsfähige Industrien und hochwertige Arbeitsplätze entstehen.

Wer ist Mario Draghi?

Prof. Mario Draghi gilt als einer der bedeutendsten Wirtschaftsexperten in Europa. Von 2006 bis 2011, zur Zeit der Finanzkrise, war er Chef der italienischen Zentralbank. Während der Aufarbeitung der Krise, von 2011 bis 2019, war Draghi Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und erarbeitete sich den Ruf als „Retter des Euro“. Von Februar 2021 bis Oktober 2022, nach seinem Rücktritt im Juli 2022, war Draghi Ministerpräsident Italiens.

Seine Karriere ist allerdings nicht nur strahlend: In Italien soll er nach der Finanzkrise intransparente Bankenrettungen auf Kosten der Steuerzahler ermöglicht haben. Auch seine Mitgliedschaft in der Lobby-Organisation Group of 30 gleichzeitig zu seiner Präsidentschaft der EZB wurde als Interessenkonflikt heftig kritisiert, von der EZB selbst aber nicht als Konflikt anerkannt.

Was steht im Draghi-Report?

In seinem Bericht „The Future of European Competitiveness” („Die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit“ attestiert Mario Draghi der EU große Probleme in eben dieser wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit. Er betont, dass die EU dringend eine koordinierte Industriepolitik, schnellere Entscheidungen und massive Investitionen benötigt. Dies sei insbesondere notwendig, um mit den USA und China wirtschaftlich Schritt halten zu können. Er weist darauf hin, dass die EU sich mit bereits seit Jahren rückläufigem Wirtschaftswachstum in einer besorgniserregenden Lage befindet. Steigender Protektionismus, der Wegfall billiger Energie aus Russland, höhere Verteidigungsausgaben und eine schrumpfende Bevölkerung verschärfen die Probleme.

Als Gegenmaßnahme empfiehlt oder fordert Draghi geradezu einen gewaltigen Kraftakt an Investitionen: 750 bis 800 Mrd. Euro müsse die EU jährlich investieren, um ihre Wettbewerbsfähigkeit wieder aufzubauen und zu erhalten. Diese Summe entspricht etwa 4 bis 5 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) der gesamten Staatengemeinschaft. Die Nachrichtenagentur Reuters fand für diese Größenordnung einen beeindruckenden Vergleich: Der Marshall-Plan zum Wiederaufbau Europas nach dem Zweiten Weltkrieg erforderte etwa 2 % des BIP der beteiligten Nationen. Ohne solche Maßnahmen prophezeit Draghi der EU jedoch einen langsamen wirtschaftlichen Niedergang.

Neben der Wirtschaftspolitik spricht der Bericht auch über die Notwendigkeit, Innovation zu fördern, Energiekosten zu senken, und die Abhängigkeit von China, vor allem bei Rohstoffen, zu verringern. Er kritisiert außerdem die mangelnde Koordination innerhalb der EU-Staaten und fordert mehr Einheit, insbesondere bei Subventionen und politischen Entscheidungen. Draghi schlägt vor, das sogenannte qualifizierte Mehrheitsvotum in der EU auszuweiten, um schnellere Entscheidungen zu ermöglichen. Er fordert außerdem neue gemeinsame Finanzierungsquellen, unter anderem von den EU-Staaten gemeinsam aufgenommene und getragene Schulden. Zusammengefasst drängt Draghi die EU zu schnellen und tiefgreifenden wirtschaftlichen Reformen, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, warnt jedoch vor politischen Hürden, die eine Umsetzung erschweren könnten.

Insbesondere diese erwähnten politischen Hürden lassen Analysten zweifeln, dass die von Draghi skizzierten Maßnahmen und erforderlichen Reformen umsetzbar sind. Bundesfinanzminister Christian Lindner hat dem Konzept gemeinsamer EU-weiter Schulden bereits eine Absage erteilt. Er dürfte unter den europäischen Finanzpolitikern nicht der einzige sein, der gemeinsame Schulden, gelinde gesagt, skeptisch und nicht praktikabel sieht.

Was hält die europäische Chemieindustrie vom Draghi-Report?

Die europäische Chemieindustrie, vertreten durch den Branchenverband Cefic, begrüßt den Draghi-Report dagegen geradezu überschwänglich: „Professor Draghi hat unseren Ruf nach einem Industrieabkommen gehört“, schreibt der Verband. Damit bezieht sich Cefic auf die Erklärung von Antwerpen aus dem Februar 2024. Damals hatten als Resultat eines europäischen Industriegipfels 73 Industrievertreter aus fast 20 Branchen, angeführt vom damaligen Cefic-Präsident Martin Brudermüller, die „Antwerp Declaration for a European Industrial Deal“ and EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen übergeben. Die Zahl der Unterzeichner dieser Erklärung ist mittlerweile auf über 1.300 angewachsen.

Inhalt der Erklärung war die Forderung nach einem „Industrial Deal“ nach einem integrierten Ansatz, der Industrie-, Handels- und Wettbewerbspolitik vereint. Nun freut sich der Verband: „Professor Draghi ist zu demselben Schluss gekommen.“ Der Bericht enthalte Vorschläge, die es nun dringend umzusetzen gelte, bekräftigt Ilham Kadri, CEO des Spezialchemie-Unternehmens Syensqo und amtierende Präsidentin von Cefic: „Es ist nicht die Zeit für Business as usual in Europa.“

Die chemische Industrie müsse dabei Wege zur Dekarbonisierung finden, Abhängigkeiten im globalen Wettbewerb angehen und insbesondere den Übergang der schwer zu dekarbonisierenden Sektoren finanzieren. „Ich glaube, im Namen aller Unterzeichner der Antwerpener Erklärung sagen zu können, dass es an der Zeit ist, dass die EU-Institutionen und die Mitgliedstaaten auf diesen Weckruf für Europa reagieren“, so Kadri. „Wenn diese Empfehlungen nicht umgesetzt werden, wie Professor Draghi heute sagte, wird Europa langsam eingehen.“ Dabei gehe es nicht nur darum, Innovationen zu fördern, sondern auch darum, die vorhandenen industriellen Kapazitäten in Europa profitabel zu halten. Kadri schließt mit dem Apell: „Alle müssen Grenzen und Komfortzonen überschreiten.“

10. Engineering Summit

Engineering Summit
(Bild: CHEMIE TECHNIK)

Bereits zum zehnten Mal veranstalten die VDMA Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau und Hüthig Medien / CHEMIE TECHNIK den Engineering Summit. Vom 1. bis 2. Oktober 2024 treffen sich auf der branchenübergreifenden Kommunikationsplattform Führungskräfte aus allen Segmenten des Anlagenbaus sowie Betreiber und Zulieferer. Dort werden strategische Fragestellungen, Herausforderungen und Chancen des Anlagenbaus thematisiert. In diesem Jahr stehen die Aspekte Agilität in volatilen Zeiten, Verbesserung der Wirtschaftlichkeit, Produktivität und Nachwuchsgewinnung auf dem Programm. Nähere Informationen und Tickets unter www.engineering-summit.de

Wie bewerten deutsche Industrievertreter den Draghi-Report?

Unter den deutschen Industrievertretern stimmt Thilo Brodtmann, Hauptgeschäftsführer des VDMA, dem Draghi-Report ebenfalls im Wesentlichen zu: "Wettbewerbsfähigkeit Europas muss Top-Priorität werden." Die Analyse des Berichts, dass Europas Zukunft und Werte davon abhängen, dass es uns wirtschaftlich gut geht, bezeichnet Brodtmann als „absolut richtig“, sieht sie aber als „eine Kehrtwende der Politik der vergangenen Jahre“.

„Mario Draghi scheint den Handel stärker und mehr nach außen gerichtet im Blick zu haben als EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen in ihren politischen Leitlinien“, zeigt sich Brodtmann erfreut. Er erhofft sich mehr Offenheit im Handel und mahnt: „Von protektionistischen Maßnahmen ist dringend abzusehen. Offene Märkte und freier Handel sind für die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen essenziell.“ Allerdings sieht auch der VDMA-Hauptgeschäftsführer die Frage der Finanzierung als Knackpunkt: „Offen ist, welche Maßnahmen die richtigen sind, um die notwendigen Investitionen finanzieren zu können. Ob gemeinsame Schulden für öffentliche Gelder der richtige Weg sind, bezweifeln wir.“

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