August 2012

CT: Wie hat sich das Geschäft von Linde Engineering nach der Finanz- und Wirtschaftskrise verändert?

Nowicki: Vor der Lehman-Pleite im Jahr 2008 herrschte bei den Investoren eine extrem gute Stimmung. Das Risikobewusstsein war gering. Auch die Finanzierung der Projekte war selten ein Problem. Das hat sich dann fast über Nacht verändert. Viele geplante Projekte wurden nicht realisiert. Das waren „Peak-Ideen“, Projekte mit erheblichen wirtschaftlichen Risiken, die nur funktionieren, wenn wirklich alle Rahmenbedingungen stimmen. Das Risikopendel hat aber seit 2009 deutlich in die andere Richtung ausgeschlagen: Die Berücksichtigung von Projektrisiken steht nun klar im Vordergrund bei Investoren und Banken. Linde ist insgesamt vergleichsweise gut durch die Krise gekommen, weil unser Gase- und Engineering-Geschäftsmodell sehr stabil ist.

CT: Wie hat sich die Projektstruktur hinsichtlich der Projektgröße entwickelt?

Nowicki: Zunächst ist im Zuge der Finanzkrise ein Teil der Großprojekte weggefallen. Linde Engineering hat darauf reagiert und sich verstärkt auf kleine und mittelgroße Projekte konzentriert. Bei Großanlagen über 100 Mio. Euro müssen Finanzierung und Projekte zusammenkommen, und das ist derzeit nicht immer einfach. Wer eine Fremdfinanzierung braucht, tut sich schwer.
 
CT: Laut aktuellem Geschäftsbericht strebt Linde im LNG-Markt eine Fokussierung auf kleine und mittelgroße Projekte an. Wie stellt sich die Situation bei LNG für Sie dar?

Nowicki: LNG ist ein sehr interessanter Markt. Wir sehen ein großes Potenzial für kleinere und mittelgroße Verflüssigungsanlagen, Terminals und für „Floating LNG“ zur Erschließung von Offshore-Gasfeldern. Aber das alles überlagernde Thema sind die großen Schiefergasvorkommen in den USA und der daraus resultierende niedrige Gaspreis. Nun werden komplett neue Überlegungen in der Gasnutzung angestellt. Wir profitieren von dieser Entwicklung direkt, zum Beispiel durch den Bau von Gastrennungsanlagen. Im ersten Halbjahr haben wir dafür schon Aufträge im Gesamtwert von über 250 Millionen US-Dollar gewonnen. Zudem gibt es in den USA auch sehr konkrete Ethylen- und Crackerprojekte. Darüber hinaus könnte sich die Schiefergasförderung auch auf andere Bereiche auswirken, zum Beispiel auf den Stahlmarkt oder den Mobilitätssektor. Andererseits sind die zum Teil seit Längerem geplanten Kohlevergasungsprojekte angesichts des Gaspreises derzeit schwerer darstellbar. Wir verfolgen das gespannt weiter, denn Linde hat erhebliches Know-how bei Synthesegas und CO2-Management. Aber auch außerhalb der USA gibt es große Schiefergasvorkommen. In China beispielsweise wurde vor Kurzem ein Fünfjahresplan für die Erschließung von Schiefergasevorkommen aufgelegt. Das wird vermutlich auch in diesem großen Markt langfristig Auswirkungen auf Energie- und Industrieprojekte haben. Die Spielregeln ändern sich. Deshalb kann man zu Recht von einer Schiefergas-Revolution sprechen. Der Markt sortiert sich derzeit ganz neu.

CT: Exxon und Dow haben bereits den Bau neuer Cracker in den USA angekündigt, auch Pläne für neue Düngemittelfabriken in Nordamerika werden konkret.

Nowicki: Das muss man sich einmal vorstellen – schließlich sind ja im Mittleren Osten enorme Produktionskapazitäten aufgebaut worden! Es ist derzeit noch nicht klar, was das zum Beispiel langfristig für den Düngemittelmarkt bedeutet. Es gab vor wenigen Jahren im pazifischen Raum Projekte zur Kohlevergasung mit Urea-Produktion für den Export. Diese haben sich durch die Finanzkrise verzögert, die Realisierung ist ungewiss. Auch hier ist noch unklar, welchen Einfluss das Schiefergas haben wird.

Für Anlagenbauer ist die Situation immerhin etwas einfacher als für die Betreiber: Der Kunde entscheidet über die Machbarkeit, und wir bauen die Anlage. Es wird interessant sein zu beobachten, ob sich die Gewichte in der chemischen Grundstoffindustrie nochmals verschieben.

CT: …was für die Produzenten im Mittleren Osten schlecht wäre, weil der lokale Bedarf dort nicht das Angebot aufnehmen kann.

Nowicki: So ist es. Das Produkt wird sicher gebraucht, aber solche Kapazitätsausweitungen werden sich zwangsläufig auf die Preise auswirken und damit andere Investitionen in Frage stellen. Wenn man vor wenigen Jahren einen unserer Experten gefragt hätte, ob in den USA wohl jemals wieder ein neuer Cracker oder eine Düngemittelfabrik gebaut werden wird, wäre die Antwort ein klares Nein gewesen. Und jetzt ist eine Vielzahl neuer Cracker im Weltmaßstab in der Evaluierungsphase. Das alles eröffnet große Chancen für Anlagenbauer.

CT: Auf dem 1. Engineering Summit im vergangenen Jahr hat Ihr Chefeinkäufer, Herr Gastel, gezeigt, wie das Anfragevolumen sukzessive kleiner wird. Hält diese Entwicklung an?

Nowicki: Es gibt den grundsätzlichen Trend im Anlagenbau – und zwar sowohl bei großen als auch bei mittleren Anlagen -, dass  die Kunden das T-EPC-Paket aufschnüren und die einzelnen Teile an den jeweils günstigsten Anbieter vergeben. Aus Einkäufersicht ist das absolut nachvollziehbar: Man geht dorthin, wo das Angebot die Anforderungen erfüllt und gleichzeitig preiswert ist. Aber dieser Trend hat seine Nachteile, auch für die Kunden. Unsere Strategie heißt deshalb: Wir sind Technologie-EPC-Anbieter und bieten eine Lösung aus einer Hand, die für den Kunden Mehrwert generiert. Zum Lizenzgeber wollen wir nicht werden. Unsere Kompetenz liegt in der Projektausführung – vor allem mit eigener Technologie in engem Zusammenspiel mit unserer Gases Division, für die wir ein wichtiger Wachstumsmotor sind. Aber auch im Drittmarkt, wo nicht Linde Gas der Kunde ist, konzentrieren wir uns vor allem auf unser T-EPC-Angebot. Wir können uns deshalb beispielsweise nicht mit unserem Kooperationspartner Samsung Engineering vergleichen, die ja mittlerweile einen Auftragsbestand von 17 Milliarden Dollar haben.

CT: …und über 30 Mrd. Dollar anstreben.

Nowicki: Wobei man klar sagen muss, das ist nicht der Weg von Linde Engineering. Wir sind Teil der Linde Group. Die Linde Group ist kein EPC-Kontraktor, sondern ein Gase- und Engineering-Unternehmen. Linde Engineering ist der deutlich kleinere Geschäftsbereich. Samsung und andere  haben sich auf EPC konzentriert ohne spezifischen Fokus auf bestimmte Industrien oder Technologien. Das führt natürlich zu einem massiven Preisdruck auf alle, die Technologie und EPC aus einer Hand anbieten. Aber wir sehen durchaus einen Trend, dass Kunden das Gesamtpaket wieder mehr schätzen, vor allem in Europa und Amerika. Denn auch in Korea und China bekommt man nichts geschenkt. Aber die Entwicklung von Samsung ist wirklich bemerkenswert. Die Wettbewerbsfähigkeit und Risikobereitschaft der asiatischen Wettbewerber ist hoch und wird weiter steigen.

CT: Wie wirkt sich das auf die Lieferanten der Anlagenbauer aus?

Nowicki: Unsere Lieferanten spüren genau wie wir den ständig zunehmenden Wettbewerbsdruck. Alle Beteiligten müssen liefern, was sie versprechen. Das gilt für uns genauso wie für unsere Kunden und Lieferanten. In den Projekten gibt es einfach keinen Spielraum für nicht-vertragskonforme Leistungen. Damit sind unsere Lieferanten natürlich Teil unseres Risikomanagements. Gleichzeitig sind sie ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg, denn sie tragen einen wesentlichen Teil zu unserem Paket bei. Die Kunden schauen immer auf den Gesamtwert, und den maximieren wir im Zusammenspiel. Das ist unsere Stärke: Wir stehen für eine präzise Ausführung hochkomplexer, effizienter Anlagen und eine hohe Kundenzufriedenheit.

CT: Mit dem Effizienz-Projekt „Compete!“ wollen Sie auch mit EPCs wettbewerbsfähig bleiben, die keine eigene Technologie anbieten.

Nowicki: „Compete!“ ist ein Überbegriff für viele Projekte. Er bezeichnet einen kontinuierlichen Verbesserungsprozess im Rahmen unseres konzernweiten High Performance Organisation(HPO)-Programms. Damit stellen wir sicher, dass wir in allen Bereichen des EPCs wettbewerbsfähig bleiben. Für alle Produkte gibt es auch Alternativen. Unsere Technologie bietet unseren Kunden den Wert, und diesen Mehrwert will der Kunde sehen und spüren. Unser T-EPC-Paket muss schlicht besser sein, sonst geht der Investor zu einem anderen Anbieter oder teilt den Umfang auf. Wir brauchen also für alle Projektphasen überzeugende Ausführungskonzepte und Werkzeuge, die uns helfen, die Produktivität stetig zu erhöhen. Das ist das Ziel von „Compete!“. Der Wettbewerbsdruck wird weiter steigen. Die Eintrittshürden im Anlagenbau sind relativ niedrig, und in Asien verlassen jedes Jahr Hunderttausende Ingenieure die Universitäten. Wir stellen uns diesem Wettbewerb.

CT: Das betrifft natürlich auch die Einkaufsstrategie, über die auf dem Engineering Summit intensiv diskutiert wurde.

Nowicki: Natürlich. Bei EPC-Projekten liegen große Potenziale im Einkauf. Die Globalisierung, die wir vor einigen Jahren eingeleitet haben, geht daher weiter. Heute kaufen wir weltweit über sechs Beschaffungszentren für ein Projekt ein und haben so einen effektiven Zugang zu den vieldiskutierten „Best Cost Countries“. Aber wir sind noch nicht am Ziel. Die Komplexität eines solchen Veränderungsprozesses ist hoch. Zu den Fragen von Sicherheit, Qualität und Liefertreue kommt die Umstellung von langjährig praktizierten Abwicklungsmodellen und teilweise die Trennung von althergebrachten Beziehungen. All das bedeutet eine zusätzliche Herausforderung für die gesamte Organisation. Aber wir sehen, dass diese Veränderungen sich bezahlt machen.

CT: Glauben Sie, dass die Wettbewerber in China und Südkorea auch technologisch schnell aufholen werden?

Nowicki: Auf jeden Fall. Die Statistiken zeigen, dass die Anzahl der Patentanmeldungen in China und Südkorea stark nach oben geschnellt sind. Auf seinem technologischen Vorsprung darf man sich nicht ausruhen, aber die hohe Technologiekompetenz ist nach wie vor eine unserer großen Stärken, und die wollen wir weiter festigen.

CT: Eine Besonderheit einiger großer Chemieanlagenbauer in Deutschland ist der Verbund einer Muttergesellschaft, die Abnehmer der Engineeringleistungen ist. Wird das der Schlüssel zur Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Raum sein?

Nowicki: Auch die Kunden im eigenen Haus haben hohe Erwartungen, denn Linde Gas steht ebenfalls in einem harten globalen Wettbewerb. Die Strategie bei Linde ist, dass wir nicht nur exklusiv für Linde Gas liefern, sondern auch für Dritte. Es gibt hier erhebliche Synergien. Wir eröffnen über Drittkunden neue Märkte für Linde Gas und umgekehrt. Außerdem helfen uns die Anforderungen des Drittmarktes dabei, unsere Wettbewerbsfähigkeit stets hochzuhalten. Das machen nicht alle Gasehersteller, aber wir sind davon überzeugt, dass dieser Weg für uns der richtige ist.

CT: Gibt es den Wunsch, das Drittgeschäft noch auszuweiten?

Nowicki: Es gibt keine Vorgabe für den Mix, denn der schwankt natürlich schon aufgrund der unterschiedlichen Projektgrößen, aber wir erwarten auch weiterhin, dass Linde Engineering im Durchschnitt weit mehr als die Hälfte seines Geschäfts mit Drittkunden generiert.[AS]

Wie die „Schiefergas-Revolution“ die Welt des Anlagenbaus verändern wird, ist Thema eines Vortrags auf dem 2. Engineering Summit.

Nähere Informationen unter www.engineering-summit.de

In den ersten vier Teilen der Interview-Reihe mit den Executives des Chemieanlagenbaus berichteten Peter Gress, BASF, Dr. Jürgen Hinderer, Bayer Technology Services, Dr. Claas-Jürgen Klasen, Evonik, und Michael Thiemann, ThyssenKrupp Uhde, über Trends im Anlagenbau.

Zur Person:
Jürgen Nowicki

Jürgen Nowicki (48) hat an der TU Karlsruhe Wirtschaftsingenieurwesen studiert und trat 1991 bei Linde ein. Nach verschiedenen Positionen im Finanzmanagement in Deutschland, Tschechien und den USA ist Nowicki seit 2011 Mitglied der Geschäftsleitung von Linde Engineering. Dort ist er u.a. verantwortlich für die kommerziellen Funktionen und das Procurement sowie für die Produktlinie Adsorptionsanlagen. Jürgen Nowicki ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit seiner Familie in der Nähe von München.

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