Highlights der Namur-Hauptsitzung
- Thema Funktionale Sicherheit: Es droht ein Rückschlag in der Sicherheitstechnik, wenn der ingenieurmäßige Sachverstand durch Zertifikate ersetzt wird.
- Thema Wireless Kommunikation: Die Namur fordert von den Anbietern die Einigung auf einen Standard und droht offen mit Kaufverweigerung.
- Thema Geräteintegration FDI: Die unterschiedlichen Interessen der Organisationen und Systemhersteller behindern die Weiterentwicklung massiv.
- Thema Anlagenmonitoring: Großes Potenzial hat dabei vor allem der Einsatz von datengetriebenen „black box"-Modellen, bei denen statistische Modelle oder neuronale Netze, basierend auf der Auswertung vorhandener Messdaten, die Zusammenhänge in den Prozessabschnitten herstellen.
- Thema Prozessleittechnik: High Performance-HMI soll künftig ein deutlich schnelleres Erfassen von Situationen und ein zielgerichtetes Reagieren erlauben.
Dass bei der Chemieproduktion immer ein Restrisiko für Menschen und Umwelt verbleibt, verdeutlichte Steffen Philipp, Geschäftsführer des diesjährigen Sponsors Hima in seinem Plenarvortrag und strich heraus, dass 90 % der in Chemiebetrieben auftretenden Störfälle auf organisatorische Fehler zurückzuführen sind. Dass gerade auch die noch relativ jungen internationalen Normen IEC 61508/IEC 61511 hier nicht unbedingt zu einer Verbesserung der Situation beitragen, wurde in zahlreichen weiteren Vorträgen deutlich.
Dr. Pirmin Netter, Infraserv Höchst, und Thomas Hinzmann, Hima, machten deutlich, zu welchen absurden Ergebnissen der rechnerische Nachweis einer SIL-Einstufung kommen kann. Je nach Auswahl der dafür eingesetzten Daten kann die SIL-Einstufung für ein und denselben Sicherheitskreis demnach durchaus zwischen SIL 1 und SIL 3 variieren – trotzdem, so Netter, kommt es in der Praxis vor, dass selbst Gutachter Fehlerwahrscheinlichkeiten (PFD) auf vier Nachkommastellen berechnen. „Es droht ein Rückschlag in der Sicherheitstechnik, wenn der ingenieurmäßige Sachverstand durch Zertifikate ersetzt wird“, warnt Netter.
Absurde SIL-Berechnungen,
mangelnde Lernfähigkeit bei Wireless
Aber auch zu den Aspekten Wireless Feldgeräte und Geräteintegration stellten die Prozessautomatisierer ihren Standpunkt klar. „Ich wundere mich über die mangelnde Lernfähigkeit der Spezies Mensch“, erklärte Dr. Norbert Kuschnerus, Vorstandsvorsitzender der Namur, im Hinblick auf die Diskussion um nun drei verschiedene Standards zur drahtlosen Kommunikation und mit Bezug auf Analogien zum „Feldbuskrieg“ der 90er Jahre. Neben Wireless Hart und ISA-SP 100 ringt nun auch noch die chinesische WIA-PA-Technik um die Vormachtstellung.
Die Namur fordert von den Anbietern die Einigung auf einen Standard und droht offen mit Kaufverweigerung. „Erst wenn ein solcher Standard da ist, können wir den Mitgliedern der Namur die Nutzung von Wireless-Geräten empfehlen“, präzisierte Kuschnerus unter Verweis auf 120 Mitgliedsfirmen, die – so der Vorstandsvorsitzende – „eine deutliche Drohgebärde“ darstellen. Und so will die Namur die sogenannten „Heathrow-Gruppe“ aktiv begleiten. Dort treffen sich Hersteller und potenzielle Anwender regelmäßig, um eine Konvergenz der drahtlosen Kommunikationstechniken zu erzielen.
Doch während die Anwenderorganisation das Thema Wireless aus Sicht einiger Anwender und Fachjournalisten überbewertet, scheint das drängende Problem der Geräteintegration für den Namur-Vorstand inzwischen weniger im Fokus zu sein. Noch vor einem Jahr sorgte das klare Bekenntnis von Dr. Norbert Kuschnerus für Aufsehen: „Wir begrüßen die Entwicklung sehr. FDI ist gelungen und muss nun implementiert werden“ – so viel Vorschusslorbeeren für eine neue Technologie gab es seitens der Anwendervereinigung noch selten.
„Asset Management-Systeme funktionieren, FDI steht vom Konzept her“, sagte Kuschnerus nun in Bad Neuenahr und ergänzte: „Uns gegenüber haben die Hersteller versichert, dass sie FDI wollen. Bis jetzt haben wir das Vertrauen, dass das auch geschieht. Einen gemeinsamen Zeithorizont haben wir aber nicht definiert.“ Ein Optimismus, den Michael Pelz, Clariant, nicht uneingeschränkt teilt: „Es ist erschreckend, wie langsam es bei der Harmonisierung voran geht. Die unterschiedlichen Interessen der Organisationen und Systemhersteller behindern die Weiterentwicklung massiv.“ Wie groß der Leidensdruck ist, verdeutlicht Pelz: „Wir haben große Probleme mit der Geräteintegration und das kostet uns Anwender eine Menge Geld.“
Zu den Problemen gehört unter anderem, dass es zu viele Interpreter für die Gerätebeschreibung gibt – beispielsweise für Hart, Foundation Fieldbus und Profibus. Die Einigung auf einen einzigen Standardinterpreter sowie eine harmonisierte Gerätebeschreibungssprache (EDDL) sind laut Pelz die Voraussetzung für ein Vorankommen beim Thema Geräteintegration. Zu den Anforderungen der Anwender gehört beispielsweise, dass alle EDDL-Blöcke im Device Package – quasi dem neuen Handbuch des Feldgerätes – vorhanden sind und eine variable Installation der Blöcke möglich sein muss. Für Altgeräte, so die Forderung der Anwender, muss es Migrationslösungen geben, z.B. dass nachträglich ein Device Package erstellt wird. Die Kommunikation soll über herstellerneutrale Schnittstellen laufen. „Erst wenn diese Anforderungen erfüllt werden, dann werden Namur und WIB den Einsatz von FDI empfehlen“, konkretisiert Pelz.
Erschreckend langsame Harmonisierung der EDDL
Der Grund für die Verzögerung bei FDI liegt vor allem in der Weigerung rasch eine Harmonisierung der Gerätebeschreibungsmethode EDDL herbeizuführen. Insidern zufolge bremsen derzeit vor allem die Fieldbus Foundation (FF) sowie die Hart Communication Foundation das Thema aus. Einen Hoffnungsschimmer sehen die Verfechter der Integration in der Ernennung von Pepperl+Fuchs-Geschäftsführer Dr. Gunther Kegel zum Vorstandsvorsitzenden der FF. Denn Kegel gilt als klarer Befürworter der Integrationsbemühungen. Zudem ist Emerson kürzlich der FDT-Group beigetreten.
In einer Umfrage unter vier Organisationen, sieben Systemanbietern und elf Geräteherstellern hat der Namur-Arbeitskreis 2.6 gemeinsam mit der niederländischen Anwenderorganisation WIB die Meinungen zum Geräteintegrationskonzept FDI ermittelt. Fazit: Einerseits sehen die Befragten FDI als wirkliche Chance, um die aktuellen Probleme der Geräteintegration nachhaltig zu verbessern. Andererseits mangelt es an der vollständigen Unterstützung der EDDL-Harmonsierung. Zudem bemängeln System- und Gerätehersteller die Gefahr, dass FDI am Ende eine dritte Technologie sein wird, die neben FDT und EDDL unterstützt werden muss. Aus Sicht der Leitsystemlieferanten fehlen außerdem Migrationskonzepte, und die Gerätehersteller befürchten, dass Standartschnittstellen und EDDL-Standardinterpreter wieder nicht flächendeckend zum Einsatz kommen werden.
Befürchtungen, die auch die Anwender teilen: Aus deren Sicht bestätigen nicht alle Systemhersteller den Einsatz des zukünftigen Standardinterpreters – es sei denn, der eigene Interpreter wird der Standard. Auch eine durchgängige Verpflichtung für den Einsatz von Standardschnittstellen lehnen diese – so die Umfrage – ab. Auf Seiten der Gerätehersteller wird zum Teil die Forderung abgelehnt, dass zwingend alle EDDL-Blöcke im Device Package implementiert werden müssen.
Doch so gravierend die Hürden noch erscheinen, der Leidensdruck der Anwender scheint groß genug, dass diese weiterhin hartnäckig das Ziel verfolgen, die Geräteintegration als eine einheitliche stabile Schnittstelle zu etablieren. Als Schritt dahin überlegen die Geräteabnehmer sogar so weit zu gehen, eine Art „Positiv-Internetpranger“ zu etablieren: „Freiwillige“ Hersteller-Rückmeldungen einer weiteren Umfrage sollen auf einer Webseite dargestellt werden.
Plant Asset Management – Automatisierung ist der Schlüssel
Wie groß die Bedeutung der Informationen aus den Feldgeräten für die Optimierung der Produktionsprozesse ist, wurde am zweiten Tag der Tagung deutlich: Zunächst stellte Dr. Michael Gote, BASF, den aktuellen Stand beim Plant Asset Management (PAM) vor und unterstrich, dass PAM bereits in vielen Betrieben fester Bestandteil ist. Hier kommt der Automatisierungstechnik eine Schlüsselrolle zu, da sie daten- und modellgestützte Ansätze erst ermöglicht. Die Anwender – so die Recherchen von Sven Seintsch, Bilfinger Berger Industrie Service, nutzen allerdings die Diagnosemöglichkeiten der Feldgeräte bislang nur selten – am ehesten aber gezielt bei problematischen Anwendungen.
Dr. Stefan Ochs, Bayer Technology Service, unterschied in seinem Vortrag die einfache Feldgeräteüberwachung vom Condition Monitoring an Maschinen sowie dem Monitoring ganzer verfahrenstechnischer Einheiten und schließlich dem Monitoring eines ganzen Betriebs oder Standorts. Während die Überwachung der Feldgeräte bereits weitgehend mit Funktionen zur Selbstüberwachung gelöst ist, setzt Condition Monitoring meist den Einsatz zusätzlicher Sensoren voraus. Das Monitoring von Prozessabschnitten oder Teilanlagen erfordert dagegen den Einsatz von Modellen bzw. Referenzinformationen unter Nutzung vorhandener Sensorik, während für die Überwachung ganzer Betriebe Kriterien wie Key Performance Indikatoren (KPI) definiert werden müssen. Großes Potenzial hat dabei vor allem der Einsatz von datengetriebenen „black box“-Modellen, bei denen statistische Modelle oder neuronale Netze, basierend auf der Auswertung vorhandener Messdaten, die Zusammenhänge in den Prozessabschnitten herstellen, ohne eine detaillierte mathematische Modellbildung vorauszusetzen.
Konkret verfolgt BTS diesen Ansatz derzeit gemeinsam mit dem Fraunhofer-Institut IOSB mit der Software „PUMon“, die ohne erheblichen Engineering- oder Konfigurations-Aufwand den Status eines Anlagenteils oder einer Teilanlage in Echtzeit aus bereits vorhandenen Messdaten und Stellgrößen ableitet und bewertet. Das Projekt befindet sich derzeit in der Pilotphase und lieferte am Beispiel der Überwachung einer Rektifikationskolonne bereits vielversprechende Ergebnisse: So konnten sich anbahnende Probleme bereits anderthalb Tage früher erkannt werden, bevor ein grenzwertinduzierter Alarm im Leitsystem auftrat. „Die Produktionsanlage der Zukunft wird sich weitgehend selbständig überwachen“, ist sich Stefan Ochs sicher und ergänzt: „Bis dahin benötigen wir Assistenzsysteme für Anlagenfahrer und Instandhalter.“
Wie diese aussehen könnten, malte Dr. Jens Bausa, BASF, in seinem Plenarvortrag an die Leinwand: „Mehr Automatisierung – weniger Komplexität“ lautete seine Forderung, basierend auf Ergebnisse einer Ist-Aufnahme, die im Rahmen des Optimierungsprojektes Opal 21 gewonnen wurden (siehe Artikel in CT 10). Demnach sollen sowohl für komplexe Arbeitsabläufe in der Messwarte als auch beim Betriebsmanagement sowie in Instandhaltung und Planung neue Wege gefunden werden, um Komplexität zu reduzieren. „Komplexität nur zu ,managen‘ ist zu wenig“, ist Bausa überzeugt: „Komplexitätsreduktion sollte immer vor Komplexitätsmanagement kommen, denn einmal geschaffene Komplexität wird man nicht mehr los.“
Konkret sucht das Projektteam nach Möglichkeiten, schwingende Regelkreise, unnötige Alarme und unübersichtliche Bedienbilder in der Messwarte zu eliminieren. Dazu sollen in allen Betrieben der BASF in Ludwigshafen Tools zum Alarmmanagement, Controller Performance und MES-Anwendungen verbindlich eingeführt werden. „Die Bedie?nerschnittstellen bisheriger Leitsysteme nutzen weder die Möglichkeiten von ,Human‘ noch von ,Machine‘ aus“, resümiert Bausa und plädiert für die Entwicklung einer „High Performance-HMI“, die ein deutlich schnelleres Erfassen von Situationen und ein zielgerichtetes Reagieren erlauben.
Der Vortrag schlug die Brücke zur kommenden Namur-Hauptsitzung, die von 10. bis 11. November 2011 stattfinden soll. Diese wird unter dem Motto „Prozessleittechnik – Wege in die Zukuft“ stehen. Sponsor wird dann ABB sein.
infoDIRECT 1012CT620