Mann auf der Straße

Die Roadmap Prozess-Sensorik 2027+ zeigt, wohin die Reise in Mess- und Analysentechnik gehen kann. (Bild: Alex Po – stock.adobe.com)

  • Die Namur hat die vierte Fassung der Technologie-Roadmap Prozess-Sensoren veröffentlicht.
  • Die Roadmap beschreibt in 19 Thesen die wesentlichen Trends.
  • Die Trends werden darin anhand konkreter Anwendungsfälle begründet.

Seit fast zwei Jahrzehnten überlegen sich Anwender, Hersteller und Forscher gemeinsam, wohin die Reise in der Prozess-Sensorik und der -analysentechnik geht. Denn im Vergleich zur klassischen Prozessmesstechnik ist die Analytik nicht nur deutlich aufwendiger, sondern im Hinblick auf die Stückzahlen auch eine teure Nische, bei der langfristige Entwicklungen gut überlegt sein wollen. Und so machten Gerätehersteller in der Vergangenheit durchaus auch die mitunter teure Erfahrung, dass neue Techniken und Anforderungen zwar seitens der Anwender vehement formuliert wurden, die Bereitschaft, diese Geräte dann anschließend auch zu kaufen, dem ursprünglichen Wunsch jedoch hinterher hinkte.
Inzwischen liegt der Wegweiser als „Technologie-Roadmap Prozess-Sensoren 2027+“ von der Anwendervereinigung Namur in seiner vierten Fassung vor. Und wie auch schon die erste Roadmap aus dem Jahr 2004 beschreibt der Leitfaden die wesentlichen Trends im Bereich Prozess-Sensorik und gleicht Anwendungstrends mit technologischen Weiterentwicklungen ab. Große Beachtung dürfte auch diesmal wieder die Potenzialanalyse für verschiedene Sensortechnologien finden.

19 Thesen weisen den Weg

Magnetisch-induktives Durchflussmessgerät
Dieses magnetisch-induktive Durchflussmessgerät mit Einweg-Messrohr wurde speziell für biopharmazeutische Single-Use-Anwendungen entwickelt. (Bild: Krohne)

Auch die aktuelle Roadmap nutzt dazu wieder Thesen, in denen die wesentlichen Entwicklungsfelder beschrieben werden. Insgesamt 19 solcher Aussagen listet die neue Roadmap, die im November 2021 veröffentlicht wurde. Dabei ist das aktuelle Papier klar von den Mega­trends Dekarbonisierung und Kreislaufwirtschaft geprägt. „Kreislaufwirtschaft mit geschlossenen Stoffströmen, „carbon neutral“, „net zero“ sind noch Marketing- und Heilsversprechen, müssen aber in den nächsten 15 Jahren in unsere industriellen Großprozesse vollständig integriert worden sein, also in einem Zehntel der Zeit, die wir hatten, um unsere heutigen Prozesse zu entwickeln und zu optimieren“, schreibt Dr. Felix Hanisch, Vorstandsvorsitzender der Anwendervereinigung Namur, im Vorwort und ist sich sicher: „Dies wird sicher nur mit einem Mehr an hochwertiger Information gelingen und damit mit einem Mehr an Prozess-Sensorik.“
Waren bereits in den vorangegangenen Versionen Anforderungen wie eine höhere Robustheit und Langzeitstabilität, der Einsatz von Prozess-Sensorik zur Optimierung bestehender Anlagen sowie für die Prozessregelung formuliert worden, und vor allem zuletzt auch das Thema Digitalisierung ein Fokus, werden in der aktuellen Fassung wiederum neue Applikationsfelder genannt. Darunter die Produktion von Biopharmaka sowie der Einsatz neuer Chemierohstoffe aus Recycling-Prozessen oder nachwachsenden Rohstoffen. Dadurch entstehen zum Teil neue Anforderungen an die Prozess-Sensorik.

Neue Messstrategien: ambulant und im Schwarm

Zur Inline-Messung, die bereits in der Vergangenheit als Wunsch deutlich formuliert worden war, gesellt sich nun auch die Erweiterung durch nichtinvasive Verfahren, die auch ambulant – d. h. nur temporär – eingesetzt werden können. Wer die zum Teil sehr aufwendig zu installierenden PAT-Geräte wie Massenspektrometer und Gaschromatographen kennt, kann sich vorstellen, dass dieser Wunsch alles andere als einfach zu realisieren ist. Auch die Schwarmsensorik zur Anlagenüberwachung gehört zu den neuen Messstrategien: Kompakte und kostengünstige Sensoren verbinden sich per Funkkommunikation und lassen sich so zur Überwachung ausgedehnter Anlagen oder für den Imissionsschutz einsetzen. Auch hier ist die einfache Installation eine Grundvoraussetzung, die sich zudem als generelle Anforderung auch in anderen Entwicklungsfeldern der Prozess-Sensorik wiederfindet.

Thermometer-Anzeige
Digitalisierung soll bei der Kalibrierung, Wartung und beim Sensortausch massiven Nutzen für die Anwender erzeugen. (Bild: Endress+Hauser)

Überhaupt sollen Informationen zur stofflichen Zusammensetzung mehr und mehr dazu genutzt werden, um Prozesse zu regeln. Dazu müssen die analytischen Verfahren, die in der Regel für die Offline-Analyse im Labor entwickelt wurden, robust gemacht werden, um im Prozess Echtzeit-Messwerte zu liefern.
Und obwohl die jüngsten Entwicklungen in Sachen drahtloser oder drahtgebundener Kommunikation (Stichwort „Ethernet-APL“) nahelegen, dass der Siegeszug der digitalen Kommunikation nicht aufzuhalten ist, findet sich auch in der neuen Roadmap ein klares Bekenntnis zu einem alten Bekannten: „Die 4-20-mA-Schnittstelle wird als Basisausstattung insbesondere für Bestandsanlagen weiterhin erforderlich sein, um eine Abwärtskompatibilität sicherzustellen“, heißt es ergänzend zur These 2 „Neue Prozess-Sensorik wird zunehmend zur Optimierung bestehender Anlagen eingesetzt“.

Neue Anwendungsfelder durch die Transformation von Chemie- und Pharmaindustrie

Interessant sind die für die einzelnen Thesen der neuen Roadmap aufgeführten Anwendungsbeispiele. So wird beispielsweise als Applikation, in der Sensorik mit geringerer Messunsicherheit gefordert ist, die aktuell aufkeimende Wasserstoffwirtschaft genannt. Dort ist die Online-Bestimmung von Spuren besonders relevant. So können sich Verunreinigungen beispielsweise schädlich auf Brennstoffzellensysteme auswirken, und PAT-Geräte sollen dazu genutzt werden, die Wasserstoffqualität sicherzustellen.

Bewertungen technischer Verfahren der Spektroskopie
Bewertungen technischer Verfahren der Spektroskopie. (Bild: Namur)

Ein weiteres großes aktuelles Anwendungsfeld sind Bioprozesse in der Chemie und in der Pharmaproduktion. Deren Regelung erfordert spezialisierte Sensorik, die für biologische Zielgrößen eingesetzt werden kann. Sowohl der Einsatz von nachwachsenden Rohstoffen in der Chemie als auch die zunehmende Verwendung von Rezyklaten in der Kreislaufwirtschaft sorgen für komplexe Herausforderungen an die Analytik: Im Gegensatz zu fossilen Rohstoffen, bei denen die Qualität und Zusammensetzung in der Regel bekannt und normiert sind, können nachwachsende Rohstoffe und Rezyklate in ihrer Zusammensetzung stark schwanken. Prozess-Sensorik muss hier entsprechende Hinweise liefern.
Ein weiteres Zukunftsfeld ist die Kleinchargenproduktion in Modulen, die eine Skalierung der Prozesse durch „Numbering-up“ ermöglichen. Konkretes Beispiel sind hier Prozesse zur Herstellung von personalisierter Medizin. Auch hier sind angepasste Messsysteme notwendig, die aufgrund der teuren Produkte mit kleinen Probemengen auskommen müssen.

Wie nachhaltig ist die Prozess-Sensorik?

Ein interessantes Schlaglicht wirft die neue Roadmap auch auf den ökologischen Impact der Sensorik selbst: Einerseits wird ausführlich dargestellt, wie durch den Einsatz moderner Messmittel Treibhausgas-Emissionen eingespart und Entsorgungskosten reduziert werden können und die Sensorik so zur Nachhaltigkeit beiträgt. Andererseits wird erstmals auch die Nachhaltigkeit der Sensorik selbst betrachtet und dafür plädiert, dass „die Aufbereitung und Wiederverwertung der eingesetzten Materialien schon bei der Entwicklung berücksichtigt werden muss“ und dabei „eine längere Lebensdauer der Sensoren einen wichtigen Beitrag leistet“. Im Kontrast dazu steht der Trend zu Einwegsensoren, wie sie beispielsweise für biopharmazeutische Prozesse gefordert werden. „Deren Nachhaltigkeit kann nur durch einen überlagernden Nutzen gerechtfertigt werden“, heißt es in der aktuellen Roadmap. Dass an Prozess­analytik für Single-Use-Prozesse kein Weg vorbei führt, wird darin anhand des Marktwachstums im Bereich biopharmazeutischer Produkte eindrücklich gezeigt: So wird alleine der Markt der Single-Use-Fermenter von 5,5 Mrd. US-Dollar in 2020 auf schätzungsweise 17 Mrd. US-Dollar in 2028 anwachsen. An der Entwicklung passender Einweg-Sensorik zur Messung der Zielgrößen pH oder Sauerstoff, die fester Bestandteil des Fermenter-Beutels sind, oder die Entwicklung neuer Sensoren für die Analyse von Laktat, Zelldichte etc. führt deshalb kein Weg vorbei.

Digitalisierung soll massiv Nutzen generieren

Bewertungen von Verfahren der Massenspektrometrie und biochemische Methoden
Bewertungen von Verfahren der Massenspektrometrie und biochemische Methoden (Bild: Namur)

Spannend sind in der vorliegenden Neufassung der Roadmap auch die Thesen zur Digitalisierung der Sensorik. Diese ist keinesfalls Selbstzweck, sondern soll bei der Kalibrierung, Wartung und beim Sensortausch massiven Nutzen für die Anwender erzeugen. So sollen smarte Sensoren und der Aufbau digitaler Anlagenzwillinge die Parametrierung und Inbetriebnahme der Geräte massiv vereinfachen und dabei helfen, den Wartungsaufwand deutlich zu reduzieren. Zudem versprechen sich vor allem die Gerätehersteller durch smarte Prozess-Sensoren die Etablierung neuer Geschäftsmodelle. Dabei spielt das Konzept der Namur Open Architecture, NOA, eine zentrale Rolle: Sie ermöglicht es, Zustandsdaten aus den im Feld eingesetzten Geräten (Vitalitätsdaten) auszulesen und über sogenannte Edge-Devices in Cloud-Systeme mit hoher Rechenleistung zu übertragen. Dadurch lassen sich Zusammenhänge zwischen Messwerten und Produktionsparametern analysieren und für Optimierungen nutzen.

Eine zentrale Rolle, um diesen Nutzen in Zukunft zu erschließen, nehmen standardisierte Schnittstellen ein. Und diese sind inzwischen weniger eine Frage der Kommunikationstechnik, sondern – vor allem bei komplexen PAT-Geräten – eine Frage der vereinheitlichten Datenmodelle. Mit dem Process Automation Device Model (PA-DIM) wurde inzwischen ein herstellerunabhängiges Informationsmodell geschaffen, das künftig die Grundlage für die Nutzung solcher Informationen in den neuen Anwendungen und Geschäftsmodellen bilden kann. Selbst Vorhersagemodelle, künftig beispielsweise unter Zuhilfenahme von KI-Methoden – erhalten damit eine einheitliche Grundlage.

Diesen Technologien gehört die Zukunft

Bewertung physikalischer und mechanischer Verfahren
Bewertung physikalischer und mechanischer Verfahren. (Bild: Namur)

Im fünften Kapitel des Papers wird die Technologie-Roadmap für verschiedene Verfahren der Prozess-Sensorik dargestellt. Dabei wird – wie bereits in der Vergangenheit – der Nutzen über dem Entwicklungshorizont dargestellt und das Potenzial per Anwendungshäufigkeit abgeschätzt. Letzteres sehen die Verfasser der Roadmap bei spektroskopischen Verfahren vor allem für die robuste Nah-Infrarot-Spektroskopie sowie bis 2030 für Prozess-NMR-Spektrometer. Auch den oben beschriebenen Sensoren für Disposable-Fermenter-Systeme sowie Biochip-Arrays für die Beschreibung von Prozessverlauf und Wachstumsverhalten in biochemischen Produktionssystemen wird dabei großes Potenzial zugetraut. Bei klassischen physikalischen und mechanischen Sensorsystemen werden vor allem Sensorketten zur Grenzschichtmessung und für Temperaturprofile bei der Destillation als naheliegende Entwicklungsschwerpunkte mit hohem Nutzenpotenzial gesehen. Aber auch tomographischen Verfahren wird – beispielsweise zur Bestimmung von Phasengrenzflächen – für die Zukunft ein hohes Nutzenpotenzial zugetraut.
Auch in der neuen Fassung der Roadmap Prozess-Sensoren appellieren die Verfasser gleichermaßen an Hersteller, Anwender und Akademia, ihre Aktivitäten gemeinsam abzustimmen und wünschen sich eine enge Zusammenarbeit.

Sie möchten gerne weiterlesen?