CT: Die Digitalisierung ist in der Prozessindustrie derzeit eines der wichtigsten Zukunftsthemen. Welche Chancen und welche Risiken sehen Sie im Hinblick auf den Explosionsschutz?
Arnhold: Die Chancen sind offensichtlich: Digitalisierung zielt darauf ab, die Effizienz aller industriellen Prozesse enorm zu steigern. Im Explosionsschutz hilft uns die Digitalisierung bei der Wartung von Ex-Anlagen. Diese müssen alle drei Jahre überprüft werden. Nehmen Sie zum Beispiel Ex-Leuchten: Diese sind meistens an schwer zugänglichen Stellen montiert. Die Prüfung verursacht enorme Kosten, weil beispielsweise für eine Sichtprüfung Gerüste gebaut werden müssen. Wenn man dort für die Nah- und Sichtprüfung Drohnen einsetzen würde, wäre der Fortschritt riesig. Auch druckfest gekapselte Geräte könnten mit geeigneter Sensorik überwacht und überprüft werden. Für andere Zündschutzarten ergeben sich ähnliche Möglichkeiten.
CT: Bei der Prüfung von Ex-Anlagen ist vor allem die Dokumentation ein echter Zeitfresser. Welche digitalen Werkzeuge können hier helfen?
Arnhold: Zunächst einmal können einzelne Produkte mit Hilfe digitaler Typenschilder einfach identifiziert werden. Prüfpläne, Gerätedaten, Anlagenlayouts, Prüfprotokolle, Reparaturprotokolle und viele andere wichtige Daten werden in speziellen Datenbanken gespeichert. Steht ein Prüfauftrag an, informiert die Datenbank die technische Leitung der Anlage automatisch, und die Prüfpläne und andere notwendige Informationen werden auf Tablet-Computer oder Smartphones heruntergeladen. Diese Geräte bilden zusammen mit Kameras, Smart-Brillen und anderen digitalen Geräten ein mobiles Mitarbeiterkonzept für verfahrenstechnische Anlagen – einschließlich explosionsgefährdeter Bereiche.
Treten während der Arbeit in der Anlage Fragen auf, können Experten oder Vorgesetzte kontaktiert, Bilder aufgenommen und übertragen werden. Zudem steckt viel Wissen in den Köpfen der Mitarbeiter. Wenn diese in Pension gehen, wird das Know-how oft nicht ausreichend weitergegeben. Und das ist ein echtes Problem. In einer umfassenden und klug aufgesetzten Datenbank kann man die Prüfungen nicht nur verwalten, sondern auch das Wissen übertragen. So entsteht aus der Digitalisierung klarer Nutzen.
Thorsten Arnhold
Der Elektrotechniker Prof. Dr. Thorsten Arnhold ist seit 27 Jahren mit dem Explosionsschutz eng verbunden, von Anfang an als Mitarbeiter von R. Stahl, wo er seit 2012 für die Technologieentwicklung verantwortlich ist. Von 2014 bis 2019 war Arnhold Chairman der Zertifizierungsorganisation IECEx und ist seit 2020 Mitglied des IEC Board of Conformity Assessment. Arnhold lehrt außerdem an der Ernst Abbe Hochschule Jena sowie der Hochschule Heilbronn.
CT: Also nur Vorteile, oder sehen Sie auch Risiken durch die Digitalisierung?
Arnhold: Bei aller Euphorie darf man nicht vergessen, dass all diese intelligenten Geräte mit elektrischer Energie betrieben werden, die normalerweise in Batterien gespeichert wird. Folglich müssen diese Produkte alle Anforderungen erfüllen, die elektrische Produkte, die für den Einsatz in explosionsgefährdeten Bereichen bestimmt sind, erfüllen müssen.
Bei IEC und IECEx haben wir diese spezifischen Fragen und ihre Bedeutung für den Markt erkannt. Wir haben eine spezielle IEC-Arbeitsgruppe gegründet, die sich mit der Frage beschäftigt, wie moderne mobile, digitale Geräte sicher umgebaut werden können, um die Anforderungen der Normen für explosionsgefährdete Bereiche zu erfüllen. Darüber hinaus unternehmen wir besondere Anstrengungen, um die Marktüberwachung zu intensivieren. IECEx wird Hand in Hand mit der Atex Administrative Cooperation Working Group, Adco, der EU arbeiten, um unsichere mobile Produkte schnell von den globalen Märkten zu verbannen. Eine neue Arbeitsgruppe, die sich mit diesen Fragen beschäftigt, hat im Mai 2019 ihre Arbeit aufgenommen.
CT: In dem Vortrag beim Expertenforum von R. Stahl im Herbst 2019 wurde deutlich, wie aufwendig es ist, unterschiedliche, in einem Unternehmen vorhandene Datenbanken zusammenzuführen. Wie weit ist die Branche in Sachen elektronisches Typenschild, mit dem das vereinfacht werden könnte?
Arnhold: Möglich wäre das heute schon, weil die Hersteller in der Regel Gerätedaten über das Internet zur Verfügung stellen können. Die kryptischen Botschaften auf den Typenschildern von Ex-Geräten verstehen immer weniger Menschen. Wir arbeiten in nationalen und internationalen Gremien am digitalen Typenschild, das von mobilen Geräten gelesen werden kann und mit dem sich die Bestandsaufnahme deutlich vereinfachen lässt.
CT: Ein Dauerthema sind Ex-Zertifikate: Die Bewertung von Komponenten des Explosionsschutzes nach den internationalen Regeln der IECEx wird noch nicht flächendeckend angewandt. Wo sehen Sie die Hürden?
Arnhold: Die nationalen Zertifizierungsbehörden leben zum Teil auch von der Ausstellung nationaler Zertifikate – das ist deren Geschäftsgrund-lage. Deshalb sind die nicht unbedingt bereit, eine völlige Harmonisierung der Regeln zu akzeptieren. Nehmen Sie das Beispiel Brexit: Die Engländer sind, wenn sie aus der EU austreten, nicht mehr in der Lage Notified Bodies nach ATEX zu stellen. Deshalb habe ich den Kollegen als Lösung vorgeschlagen, automatisch die Zertifikate der IECEx anzuerkennen. Aber das kam für diese gar nicht in Frage, denn die sechs Prüfstellen würden damit ihre Geschäftsgrundlage verlieren.
CT: Was bedeutet das für die europäischen Hersteller, die ihre Geräte in Großbritannien vermarkten wollen?
Arnhold: Sie müssen sich für ihre Geräte dann wieder von britischen Behörden Zertifikate ausstellen lassen. Das Fast-Track-Verfahren dazu ist zwar relativ einfach und schnell, aber es bedeutet dennoch zusätzlichen Aufwand. Da die britischen Notified Bodies allerdings rechtzeitig Außen-stellen in der EU gegründet haben, bleiben einmal von ihnen ausgestellte Atex-Zertifikate für das Vermarkten in der EU weiterhin gültig.
CT: Wie ist es insgesamt um global einheitliche Ex-Standards bestellt?
Arnhold: Die zunehmende Nationalisierung ist für IECEx das größte Hindernis – und durch die jüngsten Handelskonflikte wird das nicht klei-ner. China will beispielsweise künftig zwar unseren Typtest anerkennen, aber eigene Auditoren zu den Herstellern schicken. Die Audits von IECEx und ATEX sind inzwischen sehr elegant miteinander verknüpft – der Aufwand ist überschaubar. Über die Motive zusätzlicher chinesischer Audits kann man nur spekulieren.