Ventile im russischen Eis

Was wird aus den Projekten in Russland? Diese Frage beschäftigt derzeit den dort engagierten Anlagenbau. (Bild: evgenii - stock.adobe.com)

Wohl selten war der Bericht eines Chemiekonzerns mit so viel Spannung erwartet worden, wie der zur Hauptversammlung der BASF Anfang Mai. Wie würde das größte Chemieunternehmen der Welt wohl mit der Russland-Krise umgehen? Welche Folgen hätte ein Gas-Importstopp für den Chemieproduzenten? Und schließlich: Welche Umsatz- und Ergebniserwartungen für 2022 würde das Unternehmen wohl in Anbetracht massiv gestiegener Unsicherheiten sowie Energie- und Rohstoffkosten seinen Anteilseignern in Aussicht stellen?

Die gespannte Erwartung wurde schließlich enttäuscht: Es bleibt bei der bereits zum Jahresanfang für 2022 getroffenen Umsatz- und Ergebnisprognose. Nicht etwa, weil alles halb so schlimm wäre, sondern vor allem, weil „die weitere Entwicklung des Krieges in der Ukraine und ihre Auswirkungen auf die Preise und Verfügbarkeit von Energie und Rohstoffen nicht vorhersehbar“ seien. Die Haltung ist symptomatisch für das Handeln vieler Unternehmen der Branche: Nach vorne erst einmal „weiter so“, im Hintergrund aber fieberhafte Bemühungen um Alternativen und Krisenszenarien.

Ähnlich zwiegespalten liest sich auch der neue Lagebericht derArbeitsgemeinschaft Großanlagenbau im VDMA: Im Rückblick auf das Jahr 2021 eine makellose Bilanz: 78 % mehr Neuaufträge als noch im Vorjahr, exzellente Ausgangsbedingungen im Hinblick auf die Chancen, an Projekten zur Dekarbonisierung beteiligt zu werden und sogar ein nachlassender Konkurrenzdruck aufgrund der guten Auftragslage. Dazu kommt die Erwartung, dass durch gestiegene Rohstoff- und Energiepreise künftig noch mehr Projekte in diesen Bereichen angeschoben werden könnten. Doch die Zuversicht vom Jahresbeginn ist angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine weitgehend dahin. 53 % der Mitglieder sagen inzwischen, dass sich die Erwartungen verschlechtert haben.

Enorme Russland-Risiken für aktuelle Projekte des Chemieanlagenbaus

Jürgen Nowicki bei der Vorpressekonferenz zur Achema im Mai 2022 - rechts daneben: Dechema Pressesprecherin Simone Angster.
Jürgen Nowicki bei der Vorpressekonferenz zur Achema im Mai 2022 - rechts daneben: Dechema Pressesprecherin Simone Angster. (Bild: Dechema / Screenshot Redaktion)

AGAB-Sprecher Jürgen Nowicki, der als CEO von Linde Engineering selbst russische Projekte in den Büchern hat, stellte im Rahmen einer Pressekonferenz im Vorfeld der Branchenmesse Achema die Frage, ob man angesichts der unberechenbaren Veränderungen im globalen Umfeld „heute überhaupt noch strategisch planen könne“. Doch allen durch das Russland-Geschäft induzierten kurzfristigen Negativ-Effekten zum Trotz rechnet sich der Chemieanlagenbau für die Zukunft weiter gute Chancen aus: „Viele Unternehmen überdenken ihre globalen Lieferketten – das triggert enorme Investitionen für Ersatz und Redundanz“, glaubt Nowicki.

Zudem seien auch die Nachhaltigkeitsziele der Länder gute Nachrichten für die Prozessindustrie. Auch in China, dem inzwischen größten Chemiemarkt der Welt, liegt ein Investitionsfokus auf Maßnahmen zur Reduktion von Kohlendioxid-Emissionen. „Als Technologiegeber ist der VDMA-Großanlagenbau ein gefragter Partner, etwa bei der Lieferung von Anlagen zu Herstellung von grünem Wasserstoff oder von Verfahren zur ressourcenschonenden Herstellung von Basischemikalien“, heißt es dazu im Lagebericht der AGAB.

Green Deal und Nachhaltigkeitsziele weltweit triggern Investitionen

Diese Kompetenzen sind aber auch in Europa gefragt: Der von der EU-Kommission beschlossene European Green Deal sieht vor, dass Europa bis 2050 Klimaneutralität erreicht. Der Schlüssel dazu ist die Transformation in Richtung erneuerbarer Energie und vor allem der Einsatz von regenerativ erzeugtem Strom und dessen Nutzung zur Produktion von grünem Wasserstoff, der die Grundlage für eine dekarbonisierte Chemie gesehen wird. Für die Chemieindustrie bedeutet dies beispielsweise, dass der Strombedarf von 54 TWh in 2020 auf über 600 TWh in 2050 wachsen wird. Weltweit rechnet die Branche bis 2050 mit einem Bedarf von rund 9.000 TWh in Form von grünem Wasserstoff.

Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit: Auch die Kupfer-, Aluminium- und Stahlindustrie setzt auf das kleine Molekül, das klimaneutral zu Wasserdampf verbrennt. Diese Industrien sind heute für rund 10 % der weltweiten Kohlendioxid-Emissionen verantwortlich und sollen klimaneutral umgebaut werden. Jede Tonne Wasserstoff, die hier zur Direktreduktion des Eisenerzes eingesetzt wird, spart gegenüber der klassischen Hochofenroute rund 26 Tonnen Kohlendioxid ein.

CT-Fokusthema Wasserstoff

(Bild: Corona Borealis – stock.adobe.com)

In unserem Fokusthema informieren wir Sie zu allen Aspekten rund um das Trendthema Wasserstoff.

 

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Aus Sicht des Anlagenbaus eine enorme Chance für den Einsatz deutscher Technologie und für das Projektgeschäft. Einerseits geht es darum, Elektrolysekapazität für die Produktion von grünem Wasserstoff aufzubauen, andererseits aber wird das Gros des klimaneutralen Wasserstoffs alleine auf Grund der schieren Menge aus Erdgas gewonnen werden, wobei das dabei entstehende Kohlendioxid anschließend abgetrennt und gespeichert werden muss (Carbon Capturing and Storage, CCS) – man spricht in diesem Fall auch vom „blauen Wasserstoff“. Aktuell untersuchen beispielsweise die BASF und Air Liquide den Aufbau einer grenzüberschreitenden Wertschöpfungskette zur Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid am Standort Antwerpen.

Und nicht zu vergessen: Der globale Markt für Chemikalien wächst ebenfalls weiter: Alleine in Indien wird damit gerechnet, dass die Nachfrage nach Chemikalien in den kommenden drei Jahren um jährlich 9 % steigen wird.

Multiple Probleme

Doch was bleibt, sind die kurz- bis mittelfristigen Herausforderungen für den Chemieanlagenbau: Was wird aus den bereits angestoßenen und begonnenen Projekten in Russland? Schließlich hatte die russische Regierung in den letzten Jahren damit begonnen, bis zu 70 Milliarden US-Dollar in die Petrochemie zu investieren – darunter auch in die Amur Gas Processing Plant (AGPP), ein spektakuläres Projekt, an dem auch der Anlagenbauer Linde seit 2016 arbeitet und das ab 2025 bis zu 42 Milliarden Kubikmeter Erdgas pro Jahr verarbeiten soll.

Nicht nur im Chemiegeschäft, sondern generell im Großanlagenbau seien neben den Problemen durch die Russland-Ukraine-Krise auch eine Reihe weiterer Risikofaktoren zu berücksichtigen: Dazu gehören anhaltende Materialengpässe, brüchige Logistikketten sowie Corona-bedingte Probleme auf den Baustellen. Zudem rechnet der Verband mit möglichen Wettbewerbsnachteilen europäischer Anlagenbauer infolge der EU-Taxonomie.

Trotz dieser Herausforderungen sei die generelle Zuversicht im Großanlagenbau nach wie vor intakt. Dass dies so ist, liegt laut VDMA vor allem daran, dass im aktuellen Marktumfeld Lösungen für mehr Nachhaltigkeit besonders gefragt sind. So könnten die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft ihren Kunden Technologien für eine CO2-reduzierte Stahl und Zementproduktion auf Wasserstoffbasis, eine kohlenstofffreie Stromerzeugung, das Recycling von Wertstoffen oder die Herstellung von synthetischen Kraftstoffen zur Verfügung stellen. Zudem seien die Mitgliedsunternehmen auch im Kraftwerksbau gut aufgestellt: Mit der Entwicklung moderner Gaskraftwerke und Turbinen ist die Branche gut gerüstet, um neue GuD-Kraftwerke so zu planen, dass diese in Zukunft teilweise oder vollständig mit Wasserstoff betrieben werden können.

Schon 2021, so die AGAB, hätte die Nachfrage nach Technologien und Anlagen zur Dekarbonisierung von industriellen Produktionsprozessen in starkem Maße zu den Markterfolgen beigetragen. „Die meisten Mitglieder der AGAB sind zuversichtlich, dass dieser Trend sich auch im laufenden Jahr fortsetzen wird“, heißt es dazu im Lagebericht.

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