Im Hinblick auf eine Dekarbonisierung der Industrie und der Energiewirtschaft gibt es keine einfachen Antworten und Konzepte. Das wird auch in der neuesten Analyse der Internationalen Energieagentur IEA deutlich: Ob und wo Wasserstoff und Ammoniak als Energieträger im Energiesektor sinnvoll sein können, hängt von den individuellen Gegebenheiten ab. Strom aus Wind und Fotovoltaik ist sicher der effizienteste Weg zur Dekarbonisierung der Energieversorgung. Allerdings klafft zwischen Angebot und Bedarf oft auch in Sachen Distanz eine erhebliche Lücke: So ist der Bedarf in den Industrieländern der Nordhalbkugel hoch, das Angebot an Sonnen- und Windenergie gering. Dagegen ist letzteres in Nordafrika, dem Mittleren Osten oder auch Australien enorm, doch als Strom kann die Energie nicht zu den Verbrauchern in Ostasien, Europa oder Nordamerika gelangen.
Der IEA-Report „The role of low-carbon fuels in the clean energy transitions of the power sector” arbeitet nicht nur diese Problematik klar heraus, sondern nennt auch Szenarien, wann und wie Wasserstoff und Ammoniak sinnvolle Energieträger für den Einsatz in bislang fossil befeuerten Kraftwerken werden können – ob nun aus grünem Strom elektrolysiert, oder über den Weg des blauen Wasserstoffs, d.h. aus Erdgas und CO2-Abscheidung.
Thermische Kraftwerke werden auch nach 2040 noch eine wichtige Rolle spielen
Laut IEA wird die Flexibilität aufgrund der variablen Natur von Photovoltaik und Windkraft in bisher nicht dagewesenem Umfang benötigt. Dazu gehören kohlenstoffarme, abschaltbare Kraftwerke, Energiespeicherung, Nachfrageregelung und der Ausbau der Übertragungsnetze. Die Verfügbarkeit und die Kosten dieser Technologien hängen von den lokalen Bedingungen, der gesellschaftlichen Akzeptanz und der Politik ab. Weil thermische Kraftwerke auch nach 2030 noch in den meisten Volkswirtschaften eine wichtige Rolle spielen werden, müssen fossile Brennstoffe durch CO2-neutrale ersetzt werden – nur so lässt sich aus Sicht der IEA das Pariser Klimaziel erreichen. Alleine 2019 waren weltweit noch überr 1.000 neue Kohlekraftwerke im Bau.
Bis 2030 werden 79 % der kohle- und gasbefeuerten Kraftwerke in den fortgeschrittenen Volkswirtschaften noch eine technische Nutzungsdauer haben, bevor diese bis 2040 auf 43 % sinkt – so die Analyse der Energieagentur. In den Schwellenländern liegen diese Zahlen aufgrund der jüngsten Investitionen bei 83 % im Jahr 2030 und 61 % im Jahr 2040. Die Möglichkeit, einen hohen Anteil an kohlenstoffarmem Wasserstoff und Ammoniak in fossil befeuerten Kraftwerken zu verbrennen, bietet den Ländern ein zusätzliches Instrument zur Dekarbonisierung des Stromsektors bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung aller Leistungen des bestehenden Kraftwerksparks. Technisch ist es inzwischen möglich, bis zu 20 % Ammoniak und über 90 % Wasserstoff in Kraftwerken mit zu verbrennen – und die Entwicklung ist noch nicht ausgereizt.
Keine Patentlösung - es kommt auf die Bedingungen an
Allerdings hängt es – so die IEA – von vielen Variablen ab, ob der Einsatz kohlenstoffarmer Brennstoffe zur Stromerzeugung sinnvoll ist. Dazu zählen das Marktdesign, die Verfügbarkeit anderer Flexibilitätsoptionen, der genutzte Energiemix und der CO2-Preis, der von Region zu Region stark variieren kann. Doch Wärmekraftwerke, die mit kohlenstoffarmen Brennstoffen betrieben werden, könnten bis 2030 eine wachsende Rolle spielen, um Nachfragespitzen abzudecken – so die IEA. Aber der Preis bzw. Wertbeitrag muss stimmen: Dies ist dann der Fall, wenn der Strompreis hoch ist, die Systemdienstleistung – beispielsweise Flexibilität – gefragt ist und kostspielige Unterbrechungen der Energieversorgung vermeiden werden müssen.
So wird beispielsweise erwartet, dass abschaltbare Wärmekraftwerke in Indien im IEA-Szenario für nachhaltige Entwicklung (SDS) bis 2030 40 % der Energie, 50 % der Systemträgheit, fast 60 % der Spitzenkapazität und mehr als 70 % der Flexibilitätsdienste bereitstellen werden.
Kohlenstoffarme Brennstoffe können eine besonders wichtige Rolle in Ländern oder Regionen spielen, in denen der Kraftwerkspark an thermischen Kraftwerken noch jung ist oder in denen die Verfügbarkeit von kohlenstoffarmen Ressourcen begrenzt ist. So kann beispielsweise durch den Einsatz der teuren, kohlenstoffarmen Brennstoffe vermieden werden, dass bestehende Anlagen bei einer Verschärfung der Klimavorschriften stillgelegt werden müssen. Dies ist laut IEA insbesondere in Ost- und Südostasien der Fall. Ergo: Der Wert von kohlenstoffarmen Brennstoffen im Energiesektor hängt vom Systemkontext und den regionalen Bedingungen ab.
Kosten sinken, aber nicht schnell genug
Erdgas mit Kohlenstoffabscheidung, -nutzung und -speicherung (CCUS) ist derzeit der kostengünstigste Produktionsweg für kohlenstoffarme Brennstoffe. Die Kostenschätzungen für 2030 liegen im Bereich von 8-16 USD/GJ (0,9-1,9 USD/kg) für Wasserstoff und 12-24 USD/GJ (230-440 USD/t) für Ammoniak in Regionen mit Zugang zu kostengünstigem Erdgas und Verfügbarkeit von CO2-Speichern.
Die Produktionskosten für den elektrolytischen Weg sinken rapide, da die Kosten für Strom aus erneuerbaren Energien weiter sinken und bei der Herstellung von Elektrolyseuren Skaleneffekte erzielt werden. Die IEA rechnet damit, dass die Kosten für Wasserstoff bis 2030 auf 13-19 USD/GJ (1,5-2,2 USD/kg) und für Ammoniak auf 22-33 USD/GJ (400-620 USD/tNH3) in Regionen mit hervorragenden Wind- und Solarenergiequellen sinken werden.
Für den Einsatz von kohlenstoffarmem Wasserstoff und Ammoniak als Grundstoffe der Chemie rechnet die IEA bis 2030, dass die Kosten das Niveau von aus fossilen Brennstoffen erzeugtem H2 oder NH3 erreichen werden. Für die Verwendung als Brennstoff werden sie jedoch voraussichtlich auch 2030 noch deutlich teurer sein als die im „Sustainable Development Scenario“ prognostizierten Preise für Kohle und Erdgas. Die Energieagentur sieht eine umfassende Transport- und Speicherinfrastruktur als Voraussetzung für den Aufbau globaler Wertschöpfungsketten mit den Nutzern kohlenstoffarmer Kraftstoffe.
Interessant sind dabei auch die Kostenprojektionen der IEA: Die Verflüssigung von Wasserstoff für den Seetransport über eine Entfernung von 10 000 km schätzt die Energieagentur auf 14-19 USD/GJ geschätzt, während sie für Ammoniak lediglich 2-3 USD/GJ betragen. Die daraus resultierenden Gesamtkosten für die Versorgung im Jahr 2030, einschließlich Produktion und Seetransport, belaufen sich auf 22-35 USD/GJ (2,6-4,2 USD/kg) für Wasserstoff und 14-27 USD/GJ (260-500 USD/t) für Ammoniak.
Treibhausgas-Einsparpotenziale sind enorm
Die Umstellung von erdgasbasierter Stromerzeugung auf Wasserstoff aus fossilen Brennstoffen mit 95 % CO2-Abscheidung führt laut IEA zu einer Verringerung der Treibhausgasemissionen um etwa 70 %, während elektrolytischer Wasserstoff aus erneuerbaren Energien die Emissionen um 85-95 % reduziert. In ähnlicher Weise führt die Umstellung von kohlebasierter Stromerzeugung auf kohlenstoffarmes Ammoniak zu einer Emissionsreduzierung von etwa 80 %, wenn Ammoniak aus fossilen Brennstoffen mit 95 % CO2-Abscheidung hergestellt wird, und von 90-95 %, wenn Ammoniak aus Wind- und Sonnenenergie erzeugt wird.
Aufgrund des schlechteren Wirkungsgrades bezogen auf den Primärenergieträger – insbesondere bei blauem Wasserstoff – sind allerdings internationale Vereinbarungen und Regeln hinsichtlich der maximal zulässigen Treibhausgasemissionen im Zusammenhang mit der Herstellung von Wasserstoff und aus Wasserstoff gewonnenen Kraftstoffen notwendig. So kann laut IEA beispielsweise der Wechsel von Kohle zu fossilem Ammoniak zu einer Verdoppelung der Treibhausgas-Emissionen über den gesamten Lebenszyklus führen, und im Falle des Wechsels von Erdgas zu fossilem Wasserstoff sogar zu einer Verdreifachung derselben. Hier finden Sie einen Beitrag, der die verschiedenen Wasserstoff-Farben erklärt.
Flexibilität und Systemdienstleistungen belohnen, Rahmenbedingungen laufend bewerten
Um den Einsatz kohlenstoffarmer Brennstoffe im Stromsektor zu fördern, empfiehlt die IEA Strommärkte so umzugestalten, dass Flexibilität, Kapazität und andere Systemdienstleistungen, die von kohlenstoffarmen thermischen Kraftwerken erbracht werden, belohnt werden. Dies könnte durch Unterstützungsmaßnahmen wie die Bepreisung von Kohlendioxid oder regulatorische Rahmenbedingungen flankiert werden, um die verbleibende Kostenlücke zu verringern.
Angesichts des zu erwartenden verstärkten Wettbewerbs durch andere Formen kohlenstoffarmer, disponierbarer Ressourcen und andere Flexibilitäts- und Speicheroptionen sowie durch die mögliche Nachrüstung fossiler Kraftwerke mit CCUS muss die Wettbewerbsfähigkeit kohlenstoffarmer thermischer Kraftwerke in jedem Fall kontinuierlich und sorgfältig bewertet werden.
„Ein Portfolio von Maßnahmen ist erforderlich, um Kostenunterschiede auszugleichen und eine Nutzung zu fördern, die den Systemwert maximiert“, heißt es in der Analyse der IEA.
Die IEA resümiert: Die allgemeinen Strategien und Maßnahmen zur Förderung kohlenstoffarmer Kraftstoffe sollten für verschiedene technologische Optionen offen gehalten werden, solange grundlegende Nachhaltigkeitskriterien erfüllt werden. Dies dürfte den Wettbewerb verstärken und Kostensenkungen beschleunigen und gleichzeitig die Diversifizierung und Versorgungssicherheit erhöhen.