
Decision Intelligence im Chemieanlagenbau: Digitale Zwillinge dienen weniger zur vollständigen Datensammlung, sondern mehr der qualifizierten und optimierten Entscheidungsfindung. (Bild: KI-generiert mit Dall-E, OpenAI)
- Klassische Digitalisierungsansätze sind oft zu aufwendig für mittelständische Anlagenbauer und Betreiber.
- Als Alternative bietet sich Decision Intelligence (DI) an: ein Ansatz, der sich auf entscheidungsrelevante Prozessmodelle konzentriert, statt große Datenmengen zu sammeln.
- Durch digitale Zwillinge, Prozessvirtualisierung und kontinuierliches Lernen lassen sich komplexe Produktionsszenarien pragmatisch und ressourceneffizient steuern.
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Während Nachhaltigkeitsthemen in der öffentlichen Aufmerksamkeit zuletzt in den Hintergrund getreten sind, wächst in Fachkreisen das Bewusstsein für die unvermeidliche Ressourcenwende. Die Forschung zeichnet ein unmissverständliches Bild: Bei Fortsetzung unserer bisherigen Wirtschaftsweise wird sich die Anzahl kritischer Materialien mit dramatisch abnehmender Verfügbarkeit in den kommenden 50 Jahren mehr als verdreifachen. Betroffen sind nicht nur exotische Metalle, sondern fundamentale Rohstoffe der chemischen Industrie: Kupfer, Gold, Titan und selbst Aluminium.
Das Dilemma der Prozessindustrie
Für den chemischen Anlagenbau ergibt sich aus dieser Entwicklung ein fundamentales Dilemma. Um langfristig bestehen zu können, müssen Unternehmen ihre Ressourcenabhängigkeit verringern und gleichzeitig wettbewerbsfähig bleiben. Die beiden sich abzeichnenden Strategien führen jedoch unweigerlich zu einer Explosion der Prozesskomplexität:
- Strategie 1: Kreislaufwirtschaft und Ressourceneffizienz
Die Rückführung von Neben- und Abfallströmen in die Produktion ist verfahrenstechnisch komplex. Während klassische chemische Prozesse für Reinstoffe oder standardisierte Gemische optimiert sind, erfordert die Verarbeitung von Recyclingmaterialien den Umgang mit hochgradig variablen Eingangsstoffen. Der Verarbeitung von Ausgangsstoffen mit schwankenden Eigenschaften stehen heutige Anlagenkonzepte oft hilflos gegenüber. - Strategie 2: Diversifizierung der Rohstoffbasis
Die Hoffnung auf einfache, skalierbare Ersatzstoffe erweist sich zunehmend als Illusion. Stattdessen werden Anlagenbetreiber mit einer Vielzahl unterschiedlicher Alternativen arbeiten müssen – jede mit eigenen Prozessanforderungen, die flexible Anlagenkonzepte erfordern. Die Konsequenz ist ein exponentieller Anstieg der Prozesskomplexität.
Die chemische Industrie steht damit vor einem ähnlichen Paradigmenwechsel wie die Energiebranche. So wie die fluktuierende erneuerbare Energieerzeugung das Energienetz grundlegend verändert, werden variable Stoffströme die Architektur chemischer Anlagen transformieren.

Begrenzte Lösungsansätze
Der naheliegende Reflex auf steigende Komplexität ist der Ruf nach mehr Digitalisierung, Automatisierung und Industrie-4.0-Konzepten. Diese technokratische Perspektive greift jedoch zu kurz und übersieht die Realitäten besonders im industriellen Mittelstand: Etablierte Konzepte digitaler Transformation erfordern nicht nur enorme Investitionen, sondern auch Fachpersonal, das am Markt kaum verfügbar ist.
Hinzu kommt ein problematischer Zeithorizont: Während klassische Digitalisierungsprojekte oft fünf bis sieben Jahre bis zur vollen Wirksamkeit benötigen, beschleunigt sich die Ressourcenverknappung bereits heute. In Gesprächen mit mittelständischen Anlagenbauern wird die Zwickmühle deutlich: Die strategische Notwendigkeit der Transformation ist unbestritten, die existenzielle Risikobereitschaft jedoch begrenzt. Es fehlt an Ansätzen, die ohne umfassende Vorleistungen erste Schritte ermöglichen.
Alternative: Decision Intelligence im Brownfield
Die Realität vieler mittelständischer Unternehmen in der Prozessindustrie lässt die Vision einer vollständig automatisierten, sensorüberfluteten Produktionslandschaft schnell zur Utopie werden. Doch gibt es Alternativen zu kostenintensiven Komplettumbauten? Ein vielversprechender Ansatz findet sich im Konzept der Decision Intelligence (DI), das besonders für Bestandsanlagen (Brownfield) neue Perspektiven eröffnet.
Der Grundgedanke von DI unterscheidet sich fundamental von klassischen Digitalisierungsansätzen: Statt die komplette Anlage mit Sensoren zu durchdringen und anschließend mittels Data Mining nach Mustern zu suchen, konzentriert sich DI auf die Modellierung der entscheidenden Prozesszusammenhänge. Dabei geht die Methode von einer nüchternen Beobachtung aus: Moderne Produktionsanlagen mögen tausende Messstellen besitzen, doch für die Produktqualität sind typischerweise nicht mehr als fünf bis 15 Parameter entscheidend.
Prozessvirtualisierung statt Datensammlung
Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht die Virtualisierung des Produktionsprozesses. Ein aktuelles Beispiel für die transformative Kraft der Virtualisierung ist Alphafold, eine KI, die die dreidimensionale Faltung von Proteinen allein aus ihrer Aminosäuresequenz ermitteln kann. Dieses System hat einen Bereich revolutioniert, der bis dahin jahrelange Laborarbeit erforderte. Was früher als „heiliger Gral“ der Proteinchemie galt, erledigt ein Algorithmus heute in Minuten mit höherer Präzision.
Das wirft die Frage auf, ob sich ein ähnlicher Paradigmenwechsel auf die Herausforderungen der Prozessindustrie übertragen lässt: Können wir Systeme entwickeln, die die wachsende Komplexität chemischer Produktionsprozesse zu bewältigen helfen?
Die Parallelen sind naheliegend, die Unterschiede jedoch bedeutsam. Anders als bei biologischen Proteinen, die festen Naturgesetzen folgen, müssen industrielle Prozesse mit kontinuierlich schwankenden Eingangsmaterialien, technischen Randbedingungen und wirtschaftlichen Zwängen umgehen. Dennoch bietet der Grundgedanke der Virtualisierung – die systematische Erkundung komplexer Lösungsräume ohne physische Experimente – einen vielversprechenden Ansatzpunkt.
Bessere Entscheidungen statt besserer Modelle
Der DI-Ansatz vollzieht dabei einen entscheidenden Perspektivwechsel: Statt nach perfekten Vorhersagemodellen zu streben, konzentriert er sich auf die Qualität der Entscheidungen unter Unsicherheit. Die Umsetzung erfolgt durch digitale Prozesszwillinge, die auf physikalisch-chemischen Grundprinzipien basieren und durch Machine Learning kontinuierlich verfeinert werden.
Anders als reine Datenmodelle können diese hybriden Ansätze auch mit wenigen Messwerten wertvolle Entscheidungsgrundlagen liefern. Denn es geht nicht darum, perfekte Vorhersagen zu machen, sondern vielmehr darum, aus einer großen Menge möglicher Prozessvarianten diejenigen zu identifizieren, die eine hohe Erfolgswahrscheinlichkeit haben. Die Frage verschiebt sich von „Wie machen wir perfekte Vorhersagen?“ zu „Wie treffen wir mit den vorhandenen Informationen die bestmögliche Entscheidung?“.
Verbesserungsbedürftig ist also nicht die Genauigkeit unserer Modelle, sondern die Qualität unserer Entscheidungen. Wenn wir aus tausenden möglichen Prozessvarianten die besten 5 % identifizieren können, haben wir einen enormen Fortschritt erzielt – auch ohne hundertprozentige Vorhersagen.
Dieser Ansatz reflektiert eine fundamentale Einsicht: In realen Produktionsumgebungen benötigen wir keine perfekten Vorhersagemodelle. In der Praxis ist es unwirtschaftlich, große Datensätze zu erzeugen. Der Fokus auf die besten 5 % statt auf illusorische Perfektion spiegelt die Realität industrieller Entscheidungsprozesse wider. Benötigt ist die Fähigkeit, Optionen systematisch zu bewerten und zu priorisieren („rank and sort“) und unter gegeben Bedingungen optimale Entscheidungen zu treffen – mit den begrenzten Daten, die zur Verfügung stehen.
Handlungsempfehlungen für den Chemieanlagenbau
Die Transformation chemischer Anlagen von starren Systemen zu adaptiven Organisationen hat gerade erst begonnen. Die Kombination physikalischer Modelle mit künstlicher Intelligenz und intuitiven Benutzeroberflächen markiert dabei einen vielversprechenden Ansatz.
Für Entscheider im Anlagenbau ergeben sich konkrete Handlungsoptionen:
1. Ressourcenrisiken systematisch analysieren: Identifizieren Sie kritische Materialien in Ihrer Wertschöpfungskette und deren geopolitische Verfügbarkeitsrisiken.
2. Adaptivität als Designprinzip verankern: Künftige Anlagen sollten von Beginn an für variable Stoffströme konzipiert werden, selbst wenn dies kurzfristig höhere Investitionen erfordert.
3. Physikalische Modelle digitalisieren: Digitale Zwillinge auf Basis physikalischer Grundprinzipien bieten einen kostengünstigen Einstieg in die präzise Prozessoptimierung.
4. Interdisziplinäre Teams aufbauen: Die erfolgreiche Integration von Verfahrenstechnik und Datenanalyse erfordert eine gemeinsame Sprache und gegenseitiges Verständnis.
Kontinuierliches Lernen statt statischer Modelle
Ein weiterer Unterschied zu Alphafold liegt im Umgang mit Unsicherheit. Während der Proteinstruktur-Algorithmus auf einem abgeschlossenen Trainingsdatensatz basiert, müssen industrielle Systeme kontinuierlich dazulernen. Moderne Machine-Learning-Verfahren bieten hier entscheidende Vorteile: Sie können Trends aus früheren Produktionsdurchläufen extrahieren und auf neue Szenarien übertragen.
Besonders für Recyclingprozesse mit ihrer inhärenten Stoffvariabilität ist dieser Lernaspekt entscheidend. Die Frage ist nicht mehr, ob ein bestimmtes Ausgangsmaterial verarbeitbar ist, sondern wie der Prozess optimiert werden muss. Das System lernt mit jedem Durchlauf und verbessert seine Empfehlungen kontinuierlich.
Brücke zwischen Forschung und Produktion
Eine der größten Herausforderungen in der Verfahrenstechnik ist die Operationalisierung von Forschung und Entwicklung. Hier bietet der DI-Ansatz einen weiteren substanziellen Vorteil: Der digitale Zwilling kann bereits in der Entwicklungsphase mit Labordaten trainiert werden und so eine Brücke zwischen Forschung und Produktion schlagen.
Das entschärft auch das Problem, Zusammenhänge im Labormaßstab zu erkunden, ohne dass eine klare Übertragbarkeit auf industrielle Prozesse gegeben ist. Geht beispielsweise eine Recyclinganlage in Betrieb, hat ihr digitaler Zwilling bereits tausende virtuelle Produktionsläufe absolviert – basierend auf denselben Daten, die auch die Entwicklung des Verfahrens geleitet haben.
Für den Anlagenbau bedeutet dies ein grundlegend neues Paradigma: Die Inbetriebnahme ist nicht mehr risikoreiche Testphase, sondern Fortsetzung eines bereits virtuell erprobten Prozesses. Das institutionalisierte Prozesswissen bleibt nicht in den Köpfen einzelner Experten, sondern wird in einer transparenten, nachvollziehbaren Form zugänglich.
Resilienz durch Anpassungsfähigkeit
In einer Welt zunehmender Ressourcenknappheit und volatiler Märkte wird Anpassungsfähigkeit zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil. DI befähigt Anlagenbetreiber, flexibel auf schwankende Rohstoffqualitäten, neue regulatorische Anforderungen oder veränderte Marktnachfrage zu reagieren.
Statt starrer Optimierung für einen idealen, aber zunehmend unrealistischen Standardfall, ermöglicht der Ansatz die kontinuierliche Anpassung an sich verändernde Rahmenbedingungen. Diese Resilienz wird in den kommenden Jahrzehnten der Ressourcenwende voraussichtlich wertvoller sein als klassische Effizienzgewinne unter Idealbedingungen.
Für den Anlagenbau eröffnet sich damit ein Weg, die wachsende Prozesskomplexität zu bewältigen, ohne prohibitive Risiken einzugehen. Der digitale Zwilling wird zum Navigationsgerät im unübersichtlichen Terrain der Ressourcenwende – mit minimalen Einstiegshürden, aber maximaler Skalierbarkeit.
Gesellschaftliche Implikationen
Die Bedeutung solcher Ansätze reicht weit über einzelbetriebliche Optimierungen hinaus. In einer Welt zunehmender Ressourcenknappheit und verschärfter geopolitischer Spannungen wird die Fähigkeit, mit Ressourcenvolatilität umzugehen, zu einer Frage nationaler wirtschaftlicher Souveränität.
Die europäische Chemieindustrie steht vor der Herausforderung, trotz struktureller Nachteile bei Energie- und Rohstoffkosten wettbewerbsfähig zu bleiben. Der Schlüssel dazu liegt in der überlegenen Prozesseffizienz und adaptiven Produktionssystemen, die auch mit schwankenden Eingangsbedingungen zuverlässig arbeiten.
Besonders für den industriellen Mittelstand, das Rückgrat des europäischen Anlagenbaus, bietet der skizzierte Ansatz einen pragmatischen Einstieg in die ressourceneffiziente Zukunft. Anders als umfassende Digitalisierungsprojekte ermöglicht er schrittweise Implementationen mit überschaubaren Investitionen und schnellen Erfolgen.
Die Ressourcenwende wird kommen – ob durch vorausschauendes Handeln oder durch die erzwungene Anpassung an Knappheiten. Die chemische Industrie hat die Chance, diesen Wandel aktiv zu gestalten und zum Vorreiter einer ressourceneffizienten Wirtschaftsweise zu werden.
Save the Date – 11. Engineering Summit 2025
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Top-Speaker aus Industrie, Politik und Forschung liefern Impulse, Best Practices und kontroverse Debatten – ergänzt durch Networking-Sessions und eine Fachausstellung. Der Engineering Summit bietet damit einmal mehr die Plattform, um Trends zu setzen und Projekte der Zukunft auf den Weg zu bringen.
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