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(Bild: Deemerwha studio – stock.adobe.com)

  • Auf dem Weg zur klimaneutralen Chemie ist die Elektrifizierung von Prozessen ein wichtiger Baustein.
  • Es braucht jedoch einen ganzheitlichen Ansatz, indem in ausreichender Menge klimaneutral erzeugter Strom und Sekundärrohstoffe genutzt werden.
  • Es lohnt sich, auch einst verworfene Technologien wie die Düngerherstellung aus Strom unter den veränderten Rahmenbedingungen neu zu bewerten.

Was haben Elektroautos mit Dünger auf Basis von grünem Strom gemeinsam? Beide gab es schon deutlich früher als deren auf fossilen Energieträgern basierende Pendants. Und beide erleben in jüngster Zeit ein Revival. Bereits 1903 war es den Norwegern Kristian Birkeland und Sam Eyde gelungen, Luftstickstoff in einem elektrisch erzeugten Lichtbogen-Plasma zu Stickstoffmonoxid zu oxidieren und daraus Salpetersäure und schließlich Nitratdünger zu erzeugen. Nur wenige Jahre nach der zuvor entwickelten Chlor­alkali-Elektrolyse ein weiterer Meilenstein der Elektrochemie – und ein nachhaltiger noch dazu, denn die Norweger nutzten schon vor über hundert Jahren klimaneutralen Strom aus Wasserkraft. Doch die industrielle Nutzung war nur von kurzer Dauer: Gegenüber dem ab 1913 genutzten Haber-Bosch-Verfahren, bei dem Luftstickstoff an einem Katalysator mit Wasserstoff zu Ammoniak reagiert, hatte der stromhungrige Prozess aus Norwegen wirtschaftlich keine Chance. Die Folge: Rund 1,4 % der globalen Kohlendioxid-Emissionen gehen heute auf das Konto des von Fritz Haber und Carl Bosch entwickelten Prozesses, der aber für die Welternährung nach wie vor unverzichtbar ist.

Fossile Energieträger durch klimaneutral erzeugten Strom zu ersetzen, ist inzwischen das Gebot der Stunde. Und ohne Elektrifizierung lässt sich das Ziel einer klimaneutralen Chemie bis 2050 nicht erreichen. Auch deshalb beschäftigen sich Forscher wieder intensiv mit Plasmachemie und Elektrolyseverfahren, aber auch mit elektrischen Alternativen zu fossil beheizten Reaktoren. Vor allem bei der Herstellung von Basischemikalien wie Ethen lohnt der Blick auf die Prozessalternativen. Zehn dieser Stoffe, darunter auch Ammoniak, Chlor oder Natronlauge, sind für rund 70 % aller Treibhausgas-Emissionen der Chemie verantwortlich.

Chemiereaktoren elektrisch beheizen

Ein prominentes Beispiel für das Reduzieren von Treibhausgas ist die Elektrifizierung der Steamcracker: Die bislang meist mit Gas befeuerten Spaltöfen liefern die Grundbausteine für die Produktion vieler Basischemikalien. 90 % der CO2-Emissionen – weltweit immerhin rund 300 Mio. t pro Jahr – lassen sich auf das Beheizen dieser Anlagen zurückführen. Konzerne wie Dow, Shell, Sabic, Linde und BASF treiben deshalb die Entwicklung elektrisch beheizter Steamcracker voran. Im April 2024 ist in Ludwigshafen eine entsprechende Demonstrationsanlage an einem großtechnischen Cracker in Betrieb gegangen. Doch klar ist: Allein mit der elektrischen Beheizung von Prozessen lässt sich das Ziel einer klimaneutralen Chemie nicht erreichen.

Die 2019 von Dechema und Futurecamp Climate veröffentlichte Studie „Roadmap Chemie 2050“ hatte am Beispiel Deutschland gezeigt, dass eine klimaneutrale Chemie nur durch Schließung von Stoffkreisläufen, CO2-freien Wasserstoff und neuen, strombasierten Verfahren gelingen kann. Wie die Transformation der Chemie funktionieren könnte, hatten zuletzt auch der Chemieverband VCI und der Verein Deutscher Ingenieure im Jahr 2023 untersucht und in der Studie C4C drei Szenarien auf dem Weg hin zu einer klimaneutralen Chemie im Jahr 2045 bewertet. Allen gemeinsam ist ein enormer Bedarf an elektrischer Energie – zwischen sechs- und zehnmal höher als bisher und zudem klimaneutral erzeugt. Vor allem die Wasserelektrolyse schlägt hier zu Buche. Aber im Hype um den grünen Wasserstoff wird ein weiterer Erfolgsfaktor meist übersehen: Auch Sekundärrohstoffe, darunter Kunststoffabfälle oder Biomasse, sind wesentlich. Es braucht also die Kombination aus alternativen Rohstoffen und der Elektrifizierung der Chemie. Im Beispiel der Steamcracker könnte das ein elektrisch beheizter Spaltofen sein, der nicht mit Naphtha aus Erdöl, sondern Pyrolyseöl aus Kunststoffabfällen oder synthetischem Leichtbenzin gespeist wird.

Co-Elektrolyse: Das KIT forscht an Anlagen, in denen mit grünem Strom aus Wasserdampf und Kohlendioxid in nur einem Schritt Synthesegas entsteht.
Co-Elektrolyse: Das KIT forscht an Anlagen, in denen mit grünem Strom aus Wasserdampf und Kohlendioxid in nur einem Schritt Synthesegas entsteht. (Bild: Sunfire)

Co-Elektrolyse: in einem Rutsch zum Synthesegas

Aber auch die Elektrochemie hat Potenzial. Aktuelle Entwicklungen zielen darauf, Elektrolyseverfahren nicht nur effizienter zu machen, sondern auch über Wasserstoff und Chlor hinaus zu nutzen. So wird im Kopernikus-Projekt P2X an der Co-Elektrolyse geforscht: Für das Energy Lab 2.0 am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) hat der Elektrolysespezialist Sunfire im Jahr 2023 eine Anlage geliefert, in der mit grünem Strom aus Wasserdampf und Kohlendioxid in nur einem Schritt Synthesegas entsteht. Das Gemisch aus Wasserstoff und Kohlenmonoxid bildet die Grundlage für viele Chemikalien und alternative Kraftstoffe. Der Clou dabei: Je nach Anforderung und gewünschten Folgeprodukten können die Anteile von Wasserstoff und Kohlenmonoxid im Synthesegas eingestellt werden.

Doch die Co-Elektrolyse ist nur eine Möglichkeit, Synthesegas herzustellen. Der Chemiekonzern Evonik geht im Projekt PlasCO2 einen anderen Weg: Wasserstoff und Kohlendioxid werden in einem Plasma-Reaktor zu Synthesegas umgesetzt, das anschließend zur Produktion von C4-Chemikalien genutzt werden soll. Mit dem eingangs erwähnten, energieintensiven Lichtbogen-Plasma hat das Verfahren wenig zu tun: Das reaktionsfreudige Plasma – ein gasförmiges Gemisch aus Ionen und freien Elektronen – entsteht bereits bei Temperaturen unter 100 °C. Aber auch der Birkeland-Eyde-Prozess lässt sich auf dieser Basis neu bewerten: Im EU-Projekt Mapsyn (Microwave, Ultrasonic and Plasma-assisted Syntheses) ist es gelungen, kaltes Plasma zu verwenden und den Energiebedarf für die Stickoxid-Erzeugung zu halbieren.

Solche Entwicklungen sind auch deshalb wichtig, weil sie den Schlüssel zu einem bislang noch ungelösten Problem der elektrolytischen Wasserstoffherstellung im großen Maßstab liefern könnten: der Nutzung des bei der Wasserelektrolyse entstehenden Sauerstoffs. Da der Fokus der Wasserelektrolyse vor allem auf der Herstellung von Wasserstoff liegt, wird das gleichzeitig entstehende Nebenprodukt Sauerstoff bislang meist ungenutzt an die Umgebung abgegeben. Durch die Nutzung des Elektrolyse-Sauerstoffs als werthaltiges Produkt lässt sich die Gesamteffizienz und Wirtschaftlichkeit des Elektrolyseverfahrens jedoch verbessern – und dessen Konkurrenzfähigkeit gegenüber fossilen Alternativen erhöhen. Neben der Verwendung als Industriegas oder zur Anreicherung von Belebungsluft in der Abwasserreinigung ist das Nebenprodukt auch in vielen chemischen Synthesen interessant– darunter der eingangs erwähnten Düngemittelproduktion. Und weil Elektrolyseure künftig nicht nur an großen Chemie- und Raffinerie­standorten betrieben werden, sondern beispielsweise auch direkt an Windturbinen auf See, braucht es ein breites Technologieportfolio für die Nutzung von Wasserstoff und Sauerstoff vor Ort.

CT-Fokusthema Wasserstoff

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In unserem Fokusthema informieren wir Sie zu allen Aspekten rund um das Trendthema Wasserstoff.

 

  • Einen Überblick über die ausgewählten Artikel zu einzelnen Fragestellungen – von der Herstellung über den Transport bis zum Einsatz von Wasserstoff – finden Sie hier.
  • Einen ersten Startpunkt ins Thema bildet unser Grundlagenartikel.

Von Wärmepumpen bis zur flexiblen Produktion

Weiteres Potenzial für die Elektrifizierung der Chemie findet sich zudem auf der Wärmeseite: Seit vielen Jahren werden Wärmepumpen bereits in der Gebäudetechnik genutzt. Die auf dem Carnot-Prozess basierenden Maschinen ermöglichen es, Umgebungs- und auch Abwärme aus Anlagen für die Beheizung von Gebäuden und Anlagen zu nutzen. So ist es möglich, mit einer Kilowattstunde elektrischer Energie drei bis fünf Kilowattstunden Wärmeenergie zu erzeugen. Inzwischen ist es gelungen, das Temperaturniveau der erzeugten Wärme auf Werte um 130 °C zu steigern – ein Bereich, der auch für die Bereitstellung von Prozesswärme in der Chemie interessant ist und im Gegensatz zu den beschriebenen Verfahren, die ihren Einsatz in der Grundstoffchemie finden, auch in der Spezialchemie auf dem Weg zur Klimaneutralität genutzt werden kann.

Doch wenn Strom mehr und mehr nicht nur Energieträger, sondern auch die Rohstoffseite chemischer Wertschöpfungsketten bestimmt, dann gerät ein weiteres Paradigma ins Wanken: deren kontinuierliche Verfügbarkeit. Denn im Gegensatz zu Erdgas oder Naphtha kann Strom bislang nicht in den erforderlichen Mengen gespeichert werden – Angebot und Nachfrage müssen stets in Balance gehalten werden, sonst drohen Netzschwankungen bis hin zur Abschaltung. Immer deutlicher wird dieses Problem aktuell beim Ausbau der Kapazitäten für Windenergie und Photovoltaik: So mussten im Jahr 2022 allein in Deutschland 8,1 TWh Strom aus erneuerbaren Energien abgeregelt werden, weil durch das Überangebot die Netzstabilität gefährdet war. Im Kopernikus-Projekt „Synergie“ wird deshalb untersucht, wie es gelingen kann, Industrie- und Chemieproduktion so zu flexibilisieren, dass der Strombedarf in kurzer Zeit gesteigert oder gesenkt werden kann.

Dieses Demand-Side-Management machen sich manche Betreiber schon heute zunutze: beispielsweise indem die Dampferzeugung von Gas auf Strom umgeschaltet wird, wenn der Börsenstrompreis an sonnigen und windreichen Tagen unter den Gaspreis sinkt oder sogar negativ wird. Die Entwicklung flexibel schaltbarer elektrochemischer Prozesse könnte ein weiterer Schritt in Richtung Demand-Side-Management sein. Das Projekt Synergie nennt hier beispielsweise die Chlor-Alkali-Elektrolyse und die Extraktion von Carbonsäuren.

Begrenzt werden solche Konzepte allerdings von wirtschaftlichen Faktoren – allen voran dem Druck zur Kapitaleffizienz, die bei Vollauslastung einer Anlage höher ist als im Teillastbetrieb. Und der Finanzierungsaspekt hemmt schließlich auch die Umsetzung neuer Technologien in den technologischen Maßstab. So ist es angesichts gestiegener Zinsen und Energiepreise, die auf die Erlöse drücken, für die Chemieunternehmen deutlich schwieriger geworden, die Wirtschaftlichkeit neuer Anlagenprojekte – auch solcher zur Defossilisierung und Elektrifizierung – darzustellen.

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