Millionen Menschen von jetzt auf gleich in Kurzarbeit, fehlende Produkte für Folgeindustrien bis hin zu fehlenden Arzneimittelverpackungen und massive Schäden an Anlagen – dieses Szenario hat Christian Kullmann, Vorstandschef von Evonik und Präsident des Verbands der Chemischen Industrie in einem Interview mit dem WDR an die Wand gemalt. „Die Situation ist ernst, wir müssen uns auf ein drastisches, ja dramatisches Szenario einstellen, wenn wir von der russischen Gasversorgung abgeklemmt werden.“ In diesem Beitrag hatten wir über den Standpunkt des Chemieverbands VCI berichtet.
Vorausgegangen war das Inkraftsetzen der Frühwarnstufe des Erdgas-Notfallplans verbunden mit der Frage, wer wohl bei einem Ausfall russischer Lieferungen zuerst von der Versorgung abgeschnitten würde. Klar ist dabei: geschützte „Letztverbraucher“ – und dazu zählen Haushalte und grundlegende soziale Dienste – wären zunächst ausgenommen. Aber in welchen Industrien würde die Bundesnetzagentur zuerst das Licht ausmachen? Christian Kullmann, der offenbar mit anderen Industrielenkern mit der Bundesregierung mögliche Szenarien in vertraulichen Runden diskutiert, sagte dem WDR: „Die Situation ist ernst und wir müssen uns als deutsche Industrie insgesamt und als chemische Industrie insbesondere auf ein drastisches Szenario vorbereiten. Dieses droht, wenn wir vom russischen Gas abgeklemmt werden.“
Millionen Mitarbeiter in kürzester Zeit auf Kurzarbeit null
Fast alle Produktionsprozesse hierzulande könnten nur funktionieren, weil chemische Produkte zur Verfügung stünden. Ein Aus für die Chemieproduktion hätte auch das Aus für Automobilbau, Bau- und Verpackungsindustrie zur Folge. In der dritten Stufe des Notfallszenarios müsste die Chemie ihre Werke innerhalb von drei Stunden abstellen. „Das würde bedeuten, dass wir hier Hunderttaussende wenn nicht sogar Millionen Mitarbeiter innerhalb kürzester Zeit auf Kurzarbeit null setzen müssten“, so Kullmann. „Kurzfristig ist russisches Gas nicht zu ersetzen“, konstatierte auch BASF-Chef Martin Brudermüller am Montag auf einer virtuellen Investorenkonferenz. Selbst eine Rationierung von Erdgas würde wahrscheinlich komplette Produktionsketten lahmlegen. Das Unternehmen arbeite zwar intensiv daran, die Abhängigkeit von Gas zu verringern, aber das sei eben nur langfristig möglich. In diesem Beitrag hatten wir über die Auswirkungen eines möglichen Rubel-Zwangs berichtet.
Unkalkulierbare Folgen beim Abstellen kompletter Chemieparks
Weil Abstellungen ganzer Chemieparks in diesem Maße bislang in der Industriegeschichte Neuland wären, sind die Folgen unkalkulierbar: „Da kann Ihnen heute keiner sagen, ob es uns gelingen wird, diese wieder Anzufahren – die Schäden wären immens“, sagt Kullmann.
Ob die Bundesnetzagentur das ebenfalls so sieht, ist noch nicht klar. Doch die Diskussion, wer geschützt bzw. von Kürzungen ausgenommen werden muss, ist in vollem Gang. Bislang sagt die Netzagentur nichts zu einer möglichen Abschaltreihenfolge. In unserem fortlaufend aktualisierten Ticker informieren wir Sie über die Folgen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine für unsere Branche.
Was ist der Notfallplan Gas?
Der „Notfallplan Gas“ basiert auf der sogenannten europäischen SoS-Verordnung, konkret der Verordnung (EU) 2017/1938 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2017 über Maßnahmen zur Gewährleistung der sicheren Gasversorgung. Er regelt die Gasversorgung in Deutschland in einer Krisensituation. Der Notfallplan Gas kennt drei Eskalationsstufen – die Frühwarnstufe, die Alarmstufe und die Notfallstufe.
Die Frühwarnstufe ist gem. Art. 11 Abs. 1 der europäischen SoS-Verordnung dann auszurufen, wenn es konkrete, ernst zu nehmende und zuverlässige Hinweise darauf gibt, dass ein Ereignis eintreten kann, welches wahrscheinlich zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage sowie wahrscheinlich zur Auslösung der Alarm- beziehungsweise der Notfallstufe führt.