- ITM Power ist in Sheffield in der Lage, PEM-Elektrolyseure im Gigawatt-Maßstab herzustellen.
- Für die Skalierung zu Großanlagen werden Stacks parallel geschaltet.
- Die Elektrolyse-Stacks erfüllen alle einschlägigen Standards und können ohne Modifikation weltweit eingesetzt werden.
Sheffield im Juni 2024: Die Kompanie trägt Blau, Orange und Gold. Die Hosen in strenge Bügelfalten gelegt, der Kopf quaderförmig, und in der Mitte des Haupts reckt sich dem Betrachter ein orange-roter Absperrhahn wie das Auge eines Zyklopen entgegen. Erst die zahlreichen Edelstahlrohre lassen vermuten, dass es sich bei den messingfarbenen Brustpanzern der Krieger nicht um Druckerpressen aus einem Science-Fiction-Film handelt, sondern um Elektrolyseure zur Produktion von Wasserstoff. Wie eine Armee stehen die Hightech-Anlagen im Fabrikgebäude „Unit 2“ im Industriegebiet Bessemer Park in Reih und Glied.
Jeder der Elektrolyseure besteht aus drei Membranpaketen – den sogenannten Stacks. Die passend dazu „Trident“ genannten Einheiten sind dazu bestimmt, in Deutschland die Energiewende voranzutreiben: Im niedersächsischen Lingen sollen sie ab 2025 aus Wind- und Solarstrom Wasserstoff erzeugen. Mit Stolz blickt Simon Bourne auf die Reihen in der 12.000 Quadratmeter großen und nahezu voll belegten Halle – der ersten PEM-Gigafactory der Welt. Der promovierte Materialwissenschaftler ist das Mastermind hinter der von ITM entwickelten Protonenaustauschmembran, kurz „PEM“. Seit 22 Jahren forscht Bourne gemeinsam mit seinem Team an Materialien, entwickelt Beschichtungs- und Fertigungstechnologien und hat diese schließlich zu einer Technologie kombiniert, die es erlaubt, Wasserstoff mit bisher unerreichter Effizienz herzustellen.
„Wir hatten vor mehr als zwei Jahrzehnten diese interessanten Polymermaterialien für ganz andere Anwendungen entwickelt und festgestellt, dass man diese mit bestimmten Additiven leitfähig machen kann“, berichtet Bourne über die Anfänge von ITM. „Uns war schnell klar, dass man das zur Herstellung von Wasserstoff nutzen kann“, erzählt Bourne, der die ersten Elektrolysezellen sogar im eigenen Waschbecken zuhause getestet hat.
ITM Power
ITM Power PLC, gegründet im Jahr 2000, ist ein britisches Unternehmen, das sich auf die Entwicklung und Produktion von Wasserstoff-Elektrolyseuren spezialisiert hat. 2004 ging das Unternehmen an die Börse und wurde an der London Stock Exchange notiert. Der größte institutionelle Anteilseigner ist Linde PLC mit 16 %.
Aus einer interessanten Technologie etwas Brauchbares machen
„ITM“ steht für „Ion Transfer Material“ und bezeichnet die Kernkompetenz des Unternehmens: ein Material, mit dem das bei der Elektrolyse von Wasser entstehende „Knallgas“-Gemisch aus Sauerstoff und Wasserstoff schon bei dessen Entstehung sauber getrennt werden kann. Und weil das an der Kathode entstehende Wasserstoff-Ion lediglich aus dem Atomkern – einem Proton – besteht, spricht man heute von der Proton Exchange Membrane, PEM. „Unsere Aufgabe war es, aus einer interessanten Technologie etwas Brauchbares zu machen“, sagt der CTO. Dass Wasserstoff der Schlüssel zu einer klimaneutralen Wirtschaft sein wird, ist seit der Gründung von ITM im Jahr 2000 Vision und Antrieb für die inzwischen rund 350 Mitarbeiter des Unternehmens.
Auch für Technologiedirektor Frederic Marchal, der bereits seit 2008 die Entwicklung begleitet, ist dieser Aspekt entscheidend: „Ich war zuvor in einem Unternehmen beschäftigt, das sehr große Dieselmotoren herstellt. Als ich im Rahmen eines Projektes auf ITM stieß, war mir sofort klar, dass ich an der Entwicklung dieses grünen Sektors mitarbeiten möchte.“ Zu den Sternstunden des Ingenieurs zählte der Einsatz neuer Katalysatoren: „Als wir merkten, dass unsere Systeme durch die richtige Kombination aus Membranmaterial und Katalysator zum ersten Mal eine Weltklasse-Effizienz erreichten, war das ein echter Durchbruch.“ Heute erfüllen die Elektrolyseure von ITM bereits alle Ziele der EU für 2030 in Sachen Energiedichte, Effizienz und minimalem Einsatz von seltenen Metallen. Doch auch die Fehltritte verschweigt Marchal nicht: „Als wir das erreicht hatten, wollten wir uns viel zu schnell auf höhere Druckniveaus wagen – obwohl es dafür noch keine Anforderung seitens der Kunden gab.“ Zudem drohte sich ITM in weiteren Geschäftsfeldern wie dem Aufbau von Wasserstofftankstellen oder der Entwicklung eigener Brennstoffzellen zu verzetteln. „Wir waren dabei, den klaren Fokus auf die Elektrolyse zu verlieren.“
Die grüne Wasserstoffreise hat gerade erst begonnen
Dennis Schulz, seit Ende 2022 CEO des Unternehmens, teilt diese Überzeugung und denkt groß für ITM: „Die grüne Wasserstoffreise hat gerade erst begonnen. ITM hat eine enorme Chance, sich als führender Elektrolyseur-Anbieter zu positionieren, während sich dieser Markt in den kommenden Jahren entwickelt.“ Dass dafür ein langer Atem notwendig ist, wissen die Protagonisten in Sheffield und die Investoren von ITM aus leidvoller Erfahrung. „Wir hatten in der Vergangenheit zu viele Produktvarianten vorgehalten und dabei viel Geld verbrannt“, gibt Schulz zu. In einem wahren Parforceritt hat der ehemalige Linde-Manager kurz nach seinem Start als CEO ITM eine 12-monatige Rosskur verordnet, mit der die Produktpalette gestrafft und Kosten sowie die Effizienz in Produktion und Projektabwicklung gesteigert wurden.
Und schließlich auch die Erweiterung der Produktion in den Gigawatt-Maßstab. „Ich halte wenig von der ‚höher, schneller, weiter‘-Kommunikation, die in unserer Branche praktiziert wird“, erklärt Schulz. „Viele Wasserstoffprojekte sind immer noch lediglich Ankündigungen, finale Investitionsentscheidungen sind nach wie vor selten – und diese braucht es, um die Produktion hochfahren zu können“, so Schulz zum Status quo und dem bislang schleppenden Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft. Flexibilität ist also gefragt: Denn sobald der Markt anläuft, will ITM in der Lage sein, die Nachfrage auch zu bedienen. Im Zuge der voranschreitenden Automatisierung der Produktion und um der wachsenden Nachfrage nach containerisierten Elektrolyseuren entsprechen zu können, erweitert das Unternehmen in Sheffield seinen Standort derzeit um eine zweite Fabrik mit einer Fläche von zusätzlichen 8.000 Quadratmetern.
Dennis Schulz kommt zum Engineering Summit
Über die Entwicklung von ITM Power und die Skalierung der Wasserstoffindustrie insgesamt wird Dennis Schulz am 1. Oktober 2024 live auf dem Engineering Summit berichten. Schulz ist seit 2022 CEO des Unternehmens und war zuvor bei Linde Engineering in Dresden als Geschäftsführer tätig. Bereits vor seinem Wechsel zu ITM war er eng in die strategische Beziehung zwischen Linde und ITM eingebunden. Weitere Infos zum Programm des Engineering Summit in Darmstadt und Tickets zur Veranstaltung gibt es auf www.engineering-summit.de.
Dass die Produktion in Sheffield wie am Schnürchen läuft, liegt auch in der Verantwortung von Martin Clay. Als „Vice President Operations“ sorgt Clay seit drei Jahren bei ITM dafür, dass die Produktionsressourcen optimal eingesetzt werden. Den erfahrenen Qualitäts- und Produktionsmanager motivierte bei seinem Wechsel zu dem Elektrolyseur-Hersteller neben dem „Purpose“, etwas für zukünftige Generationen zu bewirken, auch der Wunsch nach persönlichem Wachstum: „Ich möchte verstehen, was dazu notwendig ist, um in einem Unternehmen erfolgreich zu sein, das sich in einem völlig neuen Umfeld bewegt.“ Die Dynamik ist dabei mit Händen zu greifen: „Vor drei Jahren war die Halle weitgehend leer – heute brauchen wir fast die komplette Fläche.“
„Noch ist das die Ausnahme und liegt an zwei 100-MW-Aufträgen, die wir aktuell abwickeln“, schränkt Dennis Schulz ein. Schulz spricht gerne Klartext – was für den CEO eines börsennotierten Unternehmens eher ungewöhnlich ist. Diese Offenheit ist Teil der besonderen Unternehmenskultur, die sich in Gesprächen mit den Mitarbeitern von ITM zeigt. Flache Hierarchien und Pragmatismus begegnen einem in Sheffield auf Schritt und Tritt. „Es geht darum, die richtigen Prozesse zur richtigen Zeit zu automatisieren und dabei zu lernen“, sagt Produktionschef Martin Clay mit Blick auf die neue Fabrik. Auch Pedram Pazouki, der im Februar 2023 von Linde in Dresden nach Sheffield wechselte und heute als Direktor für Produkte und Engineering die Kommerzialisierung der Elektrolyseure vorantreibt, bestätigt dies: „Die Technologie von ITM ist wirklich faszinierend. Und mich reizt es, diese nun in den kommerziellen Maßstab zu skalieren.“ Weil sich die Membranen und Stacks nicht beliebig vergrößern lassen, besteht das Scale-up für Großprojekte wie dem, das Linde mit Elektrolyseuren von ITM im niedersächsischen Lingen derzeit für RWE abwickelt, im Wesentlichen aus einer Parallelschaltung vieler Stacks.
CT-Fokusthema Wasserstoff
In unserem Fokusthema informieren wir Sie zu allen Aspekten rund um das Trendthema Wasserstoff.
- Einen Überblick über die ausgewählten Artikel zu einzelnen Fragestellungen – von der Herstellung über den Transport bis zum Einsatz von Wasserstoff – finden Sie hier.
- Einen ersten Startpunkt ins Thema bildet unser Grundlagenartikel.
Standardisierung und Modularisierung mit Neptune und Poseidon
„Eine unserer Herausforderungen besteht darin, dass der Markt immer größere Systeme von uns verlangt“, begründet CTO Simon Bourne die bei ITM immer wieder präsenten „Wachstumsschmerzen“. „Wir mussten einen Weg finden, die Elektrolyseure zu standardisieren – doch das ist ziemlich schwierig, wenn der Markt alle paar Jahre eine neue Größenordnung verlangt.“ ITM geht dafür den Weg der Modularisierung. Im Markt für grünen Wasserstoff sind neben individuell geplanten und gebauten Großanlagen auch standardisierte Elektrolyseure gefragt, die anschlussfertig im Container geliefert werden. Bei ITM heißen diese Anlagen „Neptune“ und erreichen Leistungen von 2 oder 5 MW. Für Großanlagen bietet ITM mit „Poseidon“ ein 20 MW Kernmodul zur Skalierung für EPC Integratoren an.
Ausgedacht hat sich die Produktnamen die Marketingchefin Sharon Poulter: „Wenn man über die Kraft nachdenkt, die in Wasser steckt, kommt man schnell zu antiken Göttern“, erklärt Poulter. Entscheidend ist für sie allerdings, dass diese Bezeichnungen von den Kunden deutlich schneller und inzwischen ganz selbstverständlich genutzt werden: „Diese Klarheit und Einfachheit hilft uns sehr, die Eigenschaften unserer Elektrolyseure zu kommunizieren.“
Ganz auf dieser Linie ist deshalb auch der im Investitionsgüter-Segment eher ungewöhnliche Schritt, Preise zu nennen: 4,995 Mio. Euro ruft ITM für den jüngsten Neptune-Container auf: 5 MW Elektrolyseleistung für 5 Mio. Euro. „Mit dieser Transparenz gewinnen wir das Vertrauen der Kunden“, begründet Dennis Schulz diesen Schritt. Und noch ein weiteres Alleinstellungsmerkmal ist den Ingenieuren aus Sheffield wichtig: Da die Elektrolyse-Stacks von ITM so konstruiert sind, dass sie alle einschlägigen Standards erfüllen, seien sie die einzigen, die ohne Modifikation weltweit eingesetzt werden können. ITM ist dadurch in der Lage, die Lieferkette weltweit zu standardisieren.
Die Strategie kommt offenbar an: „Wir registrieren eine stark steigende Anzahl von Anfragen“, berichtet Tim Calver, Vice President Commercial. Da die Technologie trotz zwei Jahrzehnten Entwicklung noch jung ist, sind Referenzen für die an sich risikoscheuen Kunden aus dem Energiesektor von entscheidender Bedeutung. „Wir konzentrieren uns in erster Linie auf Kunden mit etablierten Organisationen. Diese sind in der Lage, die Risiken, die bei einer Investitionsentscheidung zu berücksichtigen sind, professionell zu managen“, erklärt Calver, der selbst bereits knapp 30 Jahre Erfahrung im Energiesektor mitbringt.
Mit den jüngst realisierten Projekten für die Shell Raffinerie in Wesseling (Refhyne, 10 MW), Yara in Norwegen (24 MW) und Sumitomo in Japan sieht sich ITM gut für weiteres Wachstum und das Sammeln von Praxiserfahrungen gerüstet. Letzteres geschieht unter anderem in einer eigenen Leitwarte in Sheffield: Per Fernzugriff überwachen die ITM-Ingenieure die Kennwerte und Leistungsdaten der Elektrolyseure beim Kunden. Für das RWE-Projekt Get H2 in Lingen, das von Linde realisiert wird, wickelt ITM derzeit zwei jeweils 100 MW große Aufträge ab. Für eine Erweiterung des Shell-Projekts in Wesseling hofft das Unternehmen auf einen Folgeauftrag für den Ausbau um 100 MW und Anfang Juli hat sich ein weiterer Industriekunde 500 MW Kapazität gesichert. „Sobald die Zinssätze fallen, werden wir sofort eine deutliche Veränderung im Markt sehen“, ist sich Dennis Schulz sicher. „Wir müssen uns deshalb die Möglichkeit offenhalten, schnell skalieren zu können.“ Der häufig geäußerten Einschätzung, dass PEM für kleine Leistungen eingesetzt wird, während Anlagen im Gigawatt-Maßstab eher mit Alkali-Elektrolysesystemen realisiert werden, widerspricht Schulz. Doch selbst wenn er sich irren sollte und für das eher unwahrscheinliche Szenario, dass PEM künftig nur einen kleinen Anteil am Elektrolysemarkt haben sollte, sind die Aussichten im erwarteten Multimilliardenmarkt der Wasserelektrolyse gigantisch. „Und mit unserem technologischen Vorsprung sind wir in der Lage, eine führende Rolle einzunehmen.“